Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 793

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Kopflosigkeit im Lager der zaristischen Konterrevolution scheint alle bisher von der Geschichte gelieferten Beispiele zu übertreffen. Angesichts des offenkundigen Zusammenbruchs der ganzen staatlichen Maschinerie des Absolutismus versteifen sich die stupiden Schergen auf die unveräußerlichen angestammten Rechte der Nagaika [Knüttel] und glauben noch damit irgendjemand imponieren zu können. Ein Tagesbefehl des Ministers Durnowo[2] vom 9. d. Mts. erklärt kategorisch, der Verband der Post- und Telegraphen-Beamten werde unter keinen Umständen gestattet werden! Diejenigen Beamten, welche den Ausstand fortsetzten, würden unbedingt „vom Dienst ausgeschlossen werden“, diejenigen, welche außerdem „Unruhen anstifteten“, und die Beschädigung der Leitungen sowie der teueren Apparate veranlaßten, würden auch noch gerichtlich verfolgt werden. Derartige Handlungen bedeuteten „offene Auflehnung und Rebellion“. Mitte November seien zu Unterstützungen für die Post- und Telegraphen-Beamten 500000 Rubel angewiesen worden. Bei Verteilung derselben würden von den wieder in den Dienst tretenden Beamten nur solche berücksichtigt werden, die sich früher durch „Diensteifer“ ausgezeichnet hätten. Man will also noch zur Gewalt auch den Schimpf fügen und mit einer „Unterstützung“ die rebellischen Staatssklaven bestechen!

Auf die Streikenden wirken diese plumpen Sprünge der Reaktion natürlich nur anfeuernd. Sie hielten in Petersburg eine Versammlung ab, die von 2000 Personen besucht war, und in der mit allen gegen eine Stimme die Fortsetzung des Ausstandes beschlossen wurde.

Das Exekutivkomitee des Arbeiterdeputiertenrates nahm eine Resolution an, in der ausgesprochen wurde, daß der unvermeidliche Zusammenbruch des alten Systems es für das Proletariat vorteilhaft mache, den entscheidenden Schlag hinauszuschieben. Der Petersburger Arbeiterdeputiertenrat gebe daher noch nicht das Signal zum Generalstreik.

„Ruß [Otetschestwa]“ [Rußland] meldet unter dem 7. Dezember, daß in Zarskoje Selo die Einsetzung der Militärdiktatur beraten, die Einführung derselben aber bis zum Ausbruch eines größeren Ausstandes verschoben wurde.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.