Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 255

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Ein neues zaristisches Rundschreiben

[1]

Der russische Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Graf Murawjew, hat folgendes Rundschreiben an die Petersburger Vertreter der Mächte gerichtet: Petersburg, 30. Dezember (11. Januar). Als im vergangenen August mein erhabener Herr mir auftrug, den Regierungen, die in Petersburg Vertreter haben, den Vorschlag zu einer Konferenz zu unterbreiten, deren Zweck sein sollte, nach wirksameren Mitteln zu suchen, um allen Völkern die Segnungen eines wahren und dauerhaften Friedens zu sichern und vor allem der fortschreitenden Zunahme der gegenwärtigen Rüstungen ein Ziel zu setzen,[2] da schien nichts der mehr oder weniger baldigen Verwirklichung dieser von der Menschlichkeit eingegebenen Pläne im Wege zu stehen. Die entgegenkommende Aufnahme, der der Schritt der kaiserlichen Regierung der fast allen Mächten begegnete, konnte dieses Einvernehmen bekräftigen. Das kaiserliche Kabinett, das die sympathischen Wendungen, in denen die Mehrzahl der zustimmenden Schreiben der Regierungen gehalten ist, hochzuschätzen weiß, konnte gleichzeitig mit lebhafter

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber vermutlich die Autorin. Es gibt inhaltliche Bezüge zu S. 239 und S. 253 und zu ihrem Artikel „Rußland im Jahre 1898“ vom 18. und 20. Januar 1899. In: GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 318 ff., wo es auf S. 323/4 heißt: „Für diesen Wandel in der internationalen Rolle des Zarismus seit der Heiligen Allianz ist es sehr bezeichnend, daß, während Rußland als Gast an einer westeuropäischen Anti-Anarchistenkonferenz am Tiber [ab 24. November 1898 in Rom] teilnimmt, es die europäischen Regierungen nach der Newastadt zu einer – Abrüstungskomödie einlädt.“ Ebenda, S. 330 f. über die russische Abrüstung. In ihren Briefen an Leo Jogiches berichtet sie im Januar 1899 mehrere Male von Recherchen über Rußland, siehe GB, Bd. 1, S. 244 ff. Am 31. Dezember 1898 hatte sie ihm geschrieben: „In der ‚Neuen Zeit‘ bin ich nicht so zu Hause wie in der ‚Leipziger Volkszeitung‘, wo ich schreiben kann, was und wie viel ich will, erforderlichenfalls losballern, wie das in der Polemik notwendig zu sein pflegt.“ GB, Bd. 1, S. 242. Bruno Schoenlank hatte sie zudem im Dezember 1898 gebeten, über Rußland zu schreiben, da für die weitere Polemik mit Bernstein erst dessen Buch erscheinen mußte, siehe ebenda, S. 223. Die Artikel von Franz Mehring, „Gewitterwolken“, in der Neuen Zeit, XVI. Jg., 1897/1898, Zweiter Band, S. 737 ff., von Karl Kautsky, „Demokratische und reaktionäre Abrüstung“, ebenda, S. 740 ff. und der Leitartikel „Ein Trick der russischen Diplomatie“ im Vorwärts, Nr. 202 vom 30. August 1898, nahmen nur zum Abrüstungsmanifest des Zaren vom August 1898 Stellung und ordneten es mehr unter historischen und politischen Aspekten ein. Im vorliegenden Artikel sind im Unterschied dazu neben der exakten Information über das aktuelle Rundschreiben des Grafen Murawjew die Hinweise auf die sich aus dem Imperialismus, der Welt- und Ausdehnungspolitik ergebenden internationalen Gefahren und Verwicklungen beachtenswert, die für Rosa Luxemburgs Herangehensweise charakteristisch sind.

[2] Auf Initiative Rußlands, das im internationalen Wettrüsten nicht Schritt halten konnte, sollte eine internationale Konferenz zu Fragen der Aufrechterhaltung des Friedens und der Einschränkung der Rüstungen stattfinden. Am 12. August 1898 hatte die zaristische Regierung allen ausländischen Gesandten in Petersburg eine entsprechende Note überreicht. In einem zweiten Schreiben vom 11. Januar 1899 formulierte sie die Tagesordnungspunkte, die für die vom 18. Mai bis 29. Juni 1899 in Den Haag stattfindende sogenannte Friedenskonferenz als Verhandlungsgrundlage dienen sollten. Siehe auch Rosa Luxemburg: Ein neues zaristisches Rundschreiben. In: GW, Bd. 6, S. 255 ff.