Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 431

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Der letzte Axthieb

[1]

Von der russischen Regierung wird die gesetzliche Aufhebung der solidarischen Haftung der bäuerlichen Landgemeinde für den Eingang der Steuern vorbereitet. Was ist diese Tatsache für den in die Formen einer hoch entwickelten bürgerlichen Gesellschaft eingelebten und nur in diesen Formen denkenden Westeuropäer? Ein leeres, unverständliches, gleichgültiges Wort. Was ist sie für Rußland? Eine förmliche Umwälzung in den rechtlich-ökonomischen Verhältnissen, ein Markstein in der sozialen und politischen Entwicklung des Zarenreiches.

„Die Bauerngemeinde aufrechterhalten und die Freiheit der Person herstellen, die Selbstverwaltung des Dorfes auf die Städte und den ganzen Staat ausdehnen, unter Bewahrung der nationalen Einheit – darin ist die ganze Frage von der Zukunft Rußlands zusammengefaßt, d. h. die Frage derselben sozialen Antinomie, deren Lösung die Geister des Westens beschäftigt und bewegt.“ So schrieb der berühmte russische Revolutionär Herzen im Jahre 1854 in seinem dritten Briefe an Linton.[2] Die alte kommunistische Bauerngemeinde, die Obschtschina, diese fundamentale Eigentümlichkeit der russischen historischen Entwicklung, das ist für Rußland der Ausgangspunkt der künftigen sozialen Revolution. Wie kurz und grad ist da der Weg zur sozialistischen Ordnung, ohne Abschwenkung in die Moräste des westeuropäischen Kapitalismus! Glückliches Rußland, das das Kleinod seines Urkommunismus durch alle Stürme und Fährnisse[3] der Jahrhunderte hat aufzubewahren gewußt, blind und wahnwitzig, wenn es nicht dieses Kleinod wie seinen Augapfel weiter schützt und schirmt, bis die Stunde der großen Umwälzung schlägt! So dachte nach Herzen die ganze ältere Generation der russischen Sozialisten.

Bereits vor Jahrzehnten ist an dieser hoffnungsfreudigen Auffassung eine doppelte Korrektur vorgenommen worden. Unser Friedrich Engels wies den russischen Volkstümlern[4] im Jahre 1875 im „Volksstaat“ nach, daß der ländliche Dorfkommunismus durchaus keine russische Besonderheit, sondern die ursprüngliche Eigentumsform jeder Gesellschaft auf niederer Kulturstufe und als solche nicht etwa ein sozialistisches Gebilde, sondern viel eher die klassische soziale Grundlage ist, die stets und

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Zitiert nach Friedrich Engels: Nachwort (1894) [zu „Soziales aus Rußland“]. In: MEW, Bd. 22, S. 421 f.

[3] In der Quelle: Fährlichkeiten.

[4] „Narodnaja Wolja“ (Volkswille) war 1879 als illegale revolutionäre Organisation aus der nach 1861 in Rußland entstandenen Bewegung der Narodniki/Narodowolzy (Volkstümler) hervorgegangen. Sie bildete sich nach der Spaltung von „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit). Die Ziele von „Narodnaja Wolja“ waren u. a. allgemeines Wahlrecht, Gewissens- u. Pressefreiheit, eine tiefgreifende Agrarreform, in deren Ergebnis das Land den Bauern übertragen werden sollte, die es bearbeiteten. Die Zeitung „Narodnaja Wolja“ erschien – mit Unterbrechungen – illegal zwischen Oktober 1879 und Oktober 1895 mit einer Auflage von 2000 bis 3000 Exemplaren. Den Sturz der Selbstherrschaft versuchte sie durch Taktik der Verschwörung und des individuellen Terrors zu erreichen. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 wurde die Organisation zerschlagen.