Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 432

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überall den orientalischen Despotismus produziert.[1] Auf der anderen Seite machte der russische Gelehrte Tschitscherin die Entdeckung, daß die viel gepriesene russische Bauerngemeinde nicht einmal ein Überbleibsel jenes urwüchsigen Kommunismus ist, sondern vielmehr eine direkte Schöpfung der russischen Alleinherrschaft in neueren Zeiten zu rein fiskalischen Zwecken.[2] Hier hatte also der orientalische Despotismus, umgekehrt, die kommunistische Bauerngemeinde produziert.

Aber die Zeiten änderten sich. Die primitive Aussaugung des Bauerntums vermochte nicht mehr allein den modernen Anforderungen des Staates zu genügen, und in den sechziger Jahren sah sich die russische Despotie gezwungen, sowohl eine industrielle, kapitalistische Entwicklung zu schaffen wie die entsprechenden Voraussetzungen für sie. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, die Bauerngemeinde „befreit“ und mit Land beliehen, für das sie dem Fiskus neben anderen Steuern auch enorme Ablösungsgelder zu zahlen hatte. Und zwar sollte sie für diese Steuern und Abgaben solidarisch haften. Wie die Gemeinde den Grund und Boden unter ihre Mitglieder verteilte, wie sie die Abgaben auf die einzelnen Bauern abwälzte – das war ihre Sache. Die Abgaben mußten entrichtet werden, sonst wurde die ganze Gemeinde wie ein Mann verantwortlich gemacht.[3]

Und nun begann die merkwürdige, für den sozialen Forscher höchst interessante Wechselwirkung der so beschaffenen und mitten in die zunehmende kapitalistische Entwicklung versetzten Bauerngemeinde mit dieser kapitalistischen Umgebung. Rechtlich sollte der Gemeindebesitz und die periodische Umteilung des Grund und Bodens Garantien für die völlige Gleichheit der einzelnen Bauern bieten. Tatsächlich begann die wirtschaftliche Ungleichheit sofort von innen heraus das widerspruchsvolle Gebilde zu unterminieren. Die eine Bauernfamilie verfügte über mehr leistungsfähige Kräfte als die andere, der eine Bauernhof hatte mehr Vieh als der andere, ungleich waren von vornherein die Arbeitswerkzeuge, die Qualität des Bodens.

Die um die Gemeinde und in der Gemeinde aufkeimende Industrie steigerte die Ungleichheit. Der eine Bauer hatte Gelegenheit, industrielle Nebenverdienste seinen Einkünften hinzuzufügen, der andere nicht, für den einen blieb die Landwirtschaft die Hauptquelle der Existenz, für den anderen begann bereits der gewerbliche Nebenverdienst die Hauptquelle zu werden.

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[1] Siehe Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. V. Soziales aus Rußland. In: MEW, Bd. 18, S. 563.

[2] Gemeint sind die Auffassungen des Staatsrechtlers, Historikers und Philosophen Boris Nikolajewitsch Tschitscherin (1828–1904). Siehe auch Karl Marx an Nikolai Franzewitsch Danielson vom 22. März 1873. In: MEW, Bd. 33, S. 577: „Wie soll es möglich sein, daß in Rußland diese Institution als rein fiskalische Maßnahme, als Begleiterscheinung der Leibeigenschaft eingeführt worden sein soll, während sie sonst überall natürlich entstanden ist und eine notwendige Phase der Entwicklung freier Völker bildete?“

[3] Die Aufhebung der Leibeigenschaft erfolgte in Rußland 1861, die Bildung ländlicher und städtischer Selbstverwaltungsorgane (Semstwos) 1864, siehe auch S. 374, Fußnote 9.