Entweder – Oder!
[1]Die Entscheidung steht vor der Tür, heute beginnt die zweite Lesung der Zuchthausvorlage.[2] Die nächsten Tage werden uns zeigen, ob die bürgerlichen Parteien noch so viel oppositionelle Elemente unter sich zählen, als erforderlich sind, um die Zuchthausvorlage zu Fall zu bringen, oder ob der wieder so mächtig brausende Strom der Reaktion alle Schwankenden und Unschlüssigen, alle Lauen und Halben mit sich fortreißt und den Scharfmachern zu Gefallen das Koalitionsrecht vernichtet wird.
Der einzige korrekte Beschluß des Reichstags kann nur der sein, daß die Vorlage ohne Kommissionsberatung in zweiter Lesung in den Orkus versenkt wird.[3] Alles andere ist von Übel. Wir hatten eine Zeit lang, namentlich nach der totalen Niederlage der Regierung in der Debatte über die Denkschrift, der Hoffnung Raum gegeben, daß das Schicksal des Monstrums von Gesetzentwurf in der ersten Lesung besiegelt worden sei. Diese Hoffnung ist nunmehr fast ganz geschwunden. Die Vorbehalte, die das Zentrum inzwischen gemacht hat, und der nunmehr in die Öffentlichkeit gelangte „Verbesserungs-“Antrag der nationalliberalen Scharfmacher-Gruppe Möller-Büsing lassen leider mit einer gewissen Bestimmtheit voraussehen, daß der Entwurf doch noch an eine Kommission gelangen wird. Die Bassermänner scheinen fest bleiben zu wollen und wenn sie den Posten, den sie eingenommen, bis zum Ende behaupten, dann wird man es sehr anerkennen müssen, denn sie haben der Anfeindungen ganz gewiß nicht wenige zu bestehen gehabt. Für Herrn Bassermann muß es schrecklich sein, von seinen Parteigenossen mit „sozialdemokratischen Agitatoren“ in eine Linie gestellt zu werden; unser Mitleid ist ihm sicher.
Das Zentrum schweigt sich bis zum letzten Moment aus: Die von ihm angekündigten Anträge sind zur Stunde noch nicht erschienen. Wenn der „Staatsmann“ Lieber schlau sein will, so braucht er gar keine selbständigen Anträge einzubringen und kann sich damit den Schein geben, daß er an der Verschleppung der Entscheidung un
[1] Der Artikel erschien anonym. Er dürfte einer der beiden Artikel sein, von denen Rosa Luxemburg im Brief an Leo Jogiches vom 28. Oktober 1899 geschrieben hatte, siehe GB, Bd. 1, S. 389. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), ist er unter Nr. 15 ausgewiesen.
[2] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.
[3] Die Massenproteste der Arbeiter waren von Juni bis November 1899 in vielen Orten Deutschlands so stark, daß die „Zuchthausvorlage“ in der zweiten Lesung am 20. November 1899 gegen die Stimmen der Konservativen im Deutschen Reichstag abgelehnt wurde.