Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 289

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/289

schuldig ist. Denn der nationalliberale Antrag enthält ungefähr auch das, was Herr Lieber in Aussicht gestellt hat; jedenfalls bietet er eine geeignete Basis zur „Verständigung“ und Herrn Lieber bleibt es unbenommen, den nationalliberalen „Verbesserungsantrag“ nochmals zu „verbessern“.

Aber Herr Lieber hat ja ein fürchterliches Strafgericht über die Herren Minister angekündigt, wird er bockbeinig werden? Wir fürchten: leider nein. Das zweckmäßigste Strafgericht wäre die glatte Ablehnung der Zuchthausvorlage und wäre für die Herren Posadowsky und Miquel[1] unendlich empfindlicher als die hohlen Phrasen des Herrn Lieber, über deren falsches Pathos nachgerade jedermann zu lachen beginnt.

Wenn die Vorlage in eine Kommission kommt, dann bleibt die endgültige Entscheidung noch im Dunkeln. Wird sich inzwischen im deutschen Volke ein Entrüstungssturm erheben, der die ganze Vorlage radikal hinwegfegt? Möglich! Ebenso möglich ist aber auch, daß die Zentrumsmannen sich „verständigen“, daß sie, die bisher die „blamierten Europäer“ gewesen sind, die sehnlichst erwarteten „Kompensationen“ resp. Belohnungen von der Regierung endlich serviert bekommen. Denn diesen letzten Trumpf hat die Regierung in der Hand behalten, und sie wird ihn wahrscheinlich ausspielen, um das widerstrebende Zentrum für Zuchthausvorlage und Flottenvorlage zu verpflichten.[2]

Ob es so kommen wird, weiß man nicht, aber sicherlich kann es so kommen.

Das Zentrum steht an einem Scheidewege und muß diesmal seine zukünftige Politik bis zu einem gewissen Grade festlegen. Die Partei „für Wahrheit, Freiheit und Recht“ – haha! – weiß recht wohl, wie die Wünsche des Volkes sind. Entweder die Partei kehrt nunmehr um auf ihrer gefährlichen Bahn, die zum Unheil führen muß; sie lehnt Zuchthaus- und Flottenvorlage ab und nähert sich wieder dem „katholischen“ Volke, dessen Schultern die immer neu aufgepackten Lasten nicht mehr tragen können, das Zentrum wagt den Konflikt mit der Regierung – oder Zuchthausvorlage und Flottenvorlage werden – mit Modifikationen natürlich – angenommen und die Belohnungen seitens der Regierung höher angeschlagen als die Interessen des Volkes. Solcher Gestalt muß die Entscheidung kommen: Ein Drittes gibt es nicht.

Also entweder – oder!

Nächste Seite »



[1] Carl Freiherr von Stumm-Halberg, Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutaler Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschläge für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen und am 15. Januar 1898 im Vorwärts zu veröffentlichen. – Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel erklärte am 13. Dezember 1899 zugunsten der Flottenvorlage im Reichstag, die Reichsfinanzen seien so leistungsfähig, daß eine Steuererhöhung für die Vermehrung der Flotte nicht zu befürchten sei. Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, X. Legislaturperiode, I. Session 1898/1900, vierter Band, Berlin 1900, S. 3332.

[2] Nach Annahme der ersten Flottenvorlage als Flottengesetz vom 10. April 1898 (mit der Deutschland das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte, begonnen hatte) wurde Ende 1899 eine zweite Flottenvorlage vorbereitet, die am 12. Juni 1900 mit 201 gegen 103 Stimmen angenommen wurde. Sie sah eine Verdoppelung der vorgesehenen Schlachtflotte bis zum Jahre 1917 vor. Die deutsche Flotte soll danach aus 34 Linienschiffen, 11 schweren und 34 leichten Kreuzern und rd. 100 Torpedobooten bestehen, außerdem aus einem Reservegeschwader von 4 Panzerschiffen, drei schweren und vier leichten Kreuzern. Als Kosten wurden in der Vorlage 1861 Mill. M angegeben.