Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 163

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Etwas von der umstürzlerischen Tätigkeit der französischen Sozialisten in den Gemeinderäten

[1]

Seit die Sozialisten (Marxisten)[2] im Mai 1896 den Gemeinderat von Roanne erobert haben, sind im Interesse der Arbeiterklasse eine Reihe von Reformen durchgeführt bzw. in Angriff genommen worden. Die wichtigsten davon sind die folgenden: Es wurden Schulkantinen eingerichtet; auf dem Rathaus wurde eine Abteilung für unentgeltliche ärztliche Hilfeleistungen und Behandlung organisiert. Es erfolgte die Gründung eines städtischen Laboratoriums, das der Beschaffenheit der Volksnahrungsmittel, des Wassers usw. besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden hat. Der Gemeinderat errichtete ein Büro für unentgeltliche Auskunft, Beschaffung von offiziell nötigen Dokumenten usw. Das Büro ist an den Abenden der Wochentage und sonntags vormittags geöffnet und wird seitens der Arbeiter fleißig benutzt. Es wurde eine städtische Ferienaufsicht für Kinder geschaffen, welche der elterlichen Obhut ermangeln. Der Gemeinderat wendete für Unterstützung der Arbeitslosen 75000 Francs auf, erhöhte die Alterspensionen der Arbeitsinvaliden von 200 auf 350 Francs, gewährte verschiedenen Gemeinnützigen- und Unterstützungs-Gesellschaften höhere Subventionen, gründete eine Pensionskasse für die städtischen Angestellten und setzte für diese höhere Gehälter fest. Es wurden unentgeltliche städtische Kurse für Buchführung und Zeichnen eingerichtet. Der Gemeinderat beschloß ferner die Errichtung eines unentgeltlichen städtischen Arbeitsnachweises und einer Volksküche. Beide Beschlüsse haben noch nicht die Billigung der Präfektur erhalten. Der Präfekt hat sich bis heute auch den wiederholten Beschlüssen widersetzt, welche die Wiedereröffnung der Arbeitsbörse fordern, die seinerzeit von den Staatsgewalten geschlossen worden ist. Natürlich unter dem fadenscheinigen Vorwande, sie sei eine Brutstätte der Aufhetzung, der Straßentumulte usw., in Wirklichkeit aber zu dem Zwecke, die klassenbewußten und kämpfenden Arbeiterorganisationen zu zerschmettern.

In Montluçon beschloß der Gemeinderat mit allen gegen eine Stimme die Aufhebung des städtischen Oktrois [Steuern] auf alle Arten Lebensmittel und hygienische Getränke und die Einführung von Ersatzsteuern, welche weder die Arbeiterklasse noch den Kleinhandel und das Kleinhandwerk belasten. Das letzte Wort über die beschlossenen Reformen soll durch ein Referendum gesprochen werden. Die französischen Kommunalbehörden besitzen nämlich das fakultative Gewohnheitsrecht,

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[1] Dieser Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Die französische sozialistische Bewegung wies in den 90er Jahren des 19. Jh. eine kollektivistische, marxistische (Guesdisten), eine possibilistische, kleinbürgerlich-reformistische (Broussisten), eine blanquistische, sektiererische (Blanquisten), eine anarcho-syndikalistische (Allemanisten) und eine „unabhängige“ sozialreformerische (Jaurèsisten) Strömung auf.