Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 889

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Die Gemeindewahlen in Brünn

Aus Wien wird uns geschrieben: „Die Bemerkungen über die gewiß nicht erfreulichen Vorgänge bei den Gemeindewahlen in der Mährischen Hauptstadt[1] erfordern eine kleine Richtigstellung. Es ist zwar richtig, daß die deutschen und die tschechischen Sozialdemokraten nicht mit einer gemeinsamen Liste in den Wahlkampf traten, aber von ‚zwei getrennten Listen‘ kann doch nicht recht gesprochen werden. Wie gemeldet, hatte es sich darum gehandelt, welche Partei sich mit vier Kandidaten (von den aufzustellenden neun) begnügen, welcher also bei der Aufstellung die Mehrheit zukommen solle. Da darüber keine Einigung zustande kam – an Bemühungen hierzu hat es die Gesamtpartei nicht fehlen lassen – so stellte eben jede Nationalität fünf eigene Kandidaten auf, entnahm die vier anderen der Liste der Bruderpartei, weshalb sich die ‚getrennte Liste‘ im Effekt auf einen Kandidaten beschränkt. Wie übrigens der Wahlausgang zeigte, waren die deutschen Genossen mit ihrem Begehren durchaus im Recht, denn, obwohl die Mehrzahl der Arbeiter von Brünn tschechisch ist, ist doch die Mehrzahl der bei der Gemeindewahl wahlberechtigten Arbeiter (die meisten Arbeiter der Textilfabriken wohnen eben nicht in der Stadtgemeinde, sondern in den benachbarten Ortschaften) deutsch. Die deutschen Genossen brachten über 2000, die tschechischen nicht viel mehr als 1000 eigene Stimmen auf. Daß Brünn aber insgesamt eine überwiegend deutsche Stadt darstellt, zeigen die Wahlziffern der bürgerlichen Parteien: Während die deutsch-bürgerlichen über 9000 Stimmen erhielten, brachten es die tschechisch-bürgerlichen noch nicht auf 4000 Stimmen. Irrtümlich ist auch die Ansicht, daß die Bürgerlichen jene ‚Zwistigkeiten‘ für sich ‚ausnützen‘ wollen oder gar ausgenützt haben; daß jede bürgerliche Partei auch sozialdemokratische Kandidaten auf ihre Liste nahm – selbstverständlich ganz ohne ‚Entgelt‘, denn die Sozialdemokraten stimmten nur für ihre Kandidaten – geschah ausschließlich, weil man die Zahl der sozialdemokratischen Wähler überschätzt hat, und weil insbesondere die Deutschbürgerlichen den Kampf nur gegen die Tschechischbürgerlichen, also rein national führten. Auf diese Weise sind, was immerhin nützlich ist, fünf Sozialdemokraten gewählt worden, und zwar mit der höchsten Stimmenzahl, die überhaupt Kandidaten erhalten haben (11 : 234 bis 12 : 370 Stimmen), ein Ergebnis, über das die tschechische Bruderpartei ganz neidlos ihre Genugtuung äußert. Bei der den Genossen eines national einheitlichen Staates nicht leicht verständlichen Kompliziertheit der österreichischen Verhältnisse ist es eben für die Sozialdemokratie ganz unmöglich, die nationalen Fragen und Schwierigkeiten zu übergehen; so wunderlich dieser Brünner Kandidatenstreit auch erscheint, er war, so lange nicht durch eine Wahl die Zahlenverhältnisse klargelegt waren, nicht anders zu lösen, als durch die zwei halben Kandidatenlisten.“

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[1] Siehe Aus der Partei. Beiträge und Kommentare zu Meldungen in der Rubrik „Aus der Partei“. In: GW, Bd. 6, S. 880 f.