Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 84

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Abermals „Orientfrage“

[1]

Die Erwiderung W. Liebknechts in der Orientpolitik im „Vorwärts“ vom 25. d. M. bedarf meines Erachtens in ihrem sachlichen Teile keiner Antwort. Zur Verteidigung seiner Position blieb Liebknecht offenbar nichts anderes übrig, als mir das direkte Gegenteil meiner Ansichten – eine angebliche Verneinung der russischen Rubelpolitik und einen angeblichen Glauben an die „russische Mission“ – anzudichten und diese eigenen Mißverständnisse nun siegreich zu bekämpfen, wobei ihm mein Vorname die größten Dienste leistet. Gegen mich sind eigentlich nur zwei rein persönliche Spitzen am Schlusse gerichtet.[2] Und auf diese habe ich nur zu antworten, daß, wenn mir Liebknecht schnöden Undank für seine angebliche Anwaltschaft – von der ich nichts weiß – in meiner Mandatsangelegenheit auf dem Londoner Kongreß vorwirft, so hat er sich an die falsche Adresse gewendet; nicht bei mir, sondern bei den von ihm protegierten polnischen Nationalisten muß er sich nach Dank dafür umsehen, daß er ihnen einen Lumpenstreich – anders kann man eine Verwerfung unbedingt gültiger Mandate aus Programmdifferenzen nicht nennen – und obendrein eine Schlappe erspart hat, denn bei der Stimmung der französischen, belgischen und anderen Delegierten, die diesmal über polnische Angelegenheiten sehr gut informiert waren, war es ganz aussichtslos, den Streich von Zürich[3] in London zu wiederholen. Wenn aber Liebknecht aus „Galanterie“ mir noch absolut unverständliche dunkle Anspielungen auf „einen gewissen Jemand, den er nicht nennen will“, macht und die ich – eben weil mir unverständlich – nicht gebührend beantworten kann, so kann ich das nur bedauern: Wäre Liebknecht diesmal nicht so „galant“, so hätte er nicht Zwei

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[1] Überschrift der Redaktion der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden). Vorangestellt ist die Stellungnahme Wilhelm Liebknechts aus dem Vorwärts vom 25. November 1896.

[2] Sie lauten wie folgt: „Zum Schluß aber wiederhole ich ganz ernsthaft meinen Rat, Fräulein Rosa Luxemburg möge sich künftig mehr mit den polnischen als mit den armenischen Gräueln beschäftigen. Sie kommt dann nicht in Gefahr, so ungerecht beurteilt zu werden, wie es ihr schon geschehen ist, und namentlich bei ihren sozialistischen Landsleuten, – die beiläufig nicht mich im Verdacht haben, ihnen in die Suppe gespuckt zu haben, sondern u. a. einen gewissen Jemand, an dessen Nennung mich die Galanterie hindert. Sie erinnert sich doch wohl noch der fatalen Debatten auf dem Züricher Kongreß. Und sie hat doch wohl auch erfahren, daß sie ihre Aufnahme in die polnische Delegation des Londoner Arbeiterkongresses nur der Intervention der beiden deutschen Büromitglieder verdankte: Paul Singers und des Unterzeichneten. W. Liebknecht.“

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Verteidigung der Mandate der Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP) auf dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongreß in Zürich am 8. August 1893. In: GW, Bd. 6, S. 71.