Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 444

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/444

Freisinniges Geschwätz

[1]

Unter den üblichen albernen Glossen der bürgerlichen Presse zu unserem Parteitag befindet sich auch ein Leitartikel der „Vossischen Zeitung“ über die Polen und Sozialdemokraten, der als ein wahres Musterstück der unglaublichen Konfusion unserer Gegner in bezug auf die Vorgänge innerhalb der Sozialdemokratie gelten kann. „Das Tischtuch zwischen der deutschen und der polnischen Sozialdemokratie ist zerschnitten worden“, „die Polen haben sich zu unterwerfen oder sie stehen allein“ so faselt die zahnlose Tante [„Voss“] spaltenlang von einem erbitterten Nationalitätenkampfe innerhalb der Sozialdemokratie, von einer „Polnischen Politischen Sozialdemokratie“, von ihren Perfidien gegenüber den „Deutschen“ etc.

Es ist schier unbegreiflich, wie sogar ein „Intelligenzblatt“ von der geistigen Höhe der „Vossin“ imstande ist, nach den Verhandlungen des Münchener Parteitags von einem Kampfe zwischen deutschen und polnischen Sozialdemokraten zu fabulieren.[2] Wenn irgendetwas, so ist die Tatsache in München in genügendem Maße klargelegt worden, daß innerhalb der Sozialdemokratie keine Spur von nationalen Gegensätzen, von Reibungen zwischen Polen und Deutschen zu finden ist. Es ist an der Hand von Zahlen und Tatsachen gezeigt worden, daß die übergroße Mehrheit des polnischen Proletariats, sowohl in der Provinz Posen wie in Oberschlesien, durchaus einträchtig mit den deutschen Arbeitern in Reih und Glied unter dem Banner der Sozialdemokratie marschiert. Steht die polnische Arbeiterschaft überhaupt auf dem Boden der sozialdemokratischen Bestrebungen, dann ist sie eins mit der deutschen Partei und kein Sonderinteresse, kein Gegensatz, kein Mißverständnis trennt sie von dieser. Der schlagendste Beweis liegt wohl darin, daß bekanntlich im Herzen Deutsch-Polens, in der Provinz Posen, grundsätzlich alle Parteiämter (Vertrauensmänner etc.) durch Genossen, die beider Sprachen mächtig sind, oder durch je einen Polen und je einen Deutschen gemeinsam bekleidet werden, daß im Wahlverein Posen je eine Sitzung in deutscher und je eine in polnischer Sprache aufeinanderfolgen, daß alle Flugblätter in Posen wie in Oberschlesien in beiden Sprachen abgefaßt werden etc.

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[1] Der Artikel erschien anonym, Rosa Luxemburgs Autorschaft ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), unter Nr. 32 ausgewiesen.

[2] Der Münchener Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fand vom 14. bis 20. September 1902 statt, siehe Parteitagsprotokoll München 1902, S. 21 ff. – auch GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 281 ff.