Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 899

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Wer den aufgeklärten Arbeitern einen Vorwurf daraus macht, daß sie sich dem technischen Fortschritt der Produktion nicht widersetzen, und noch für diese selbstverständliche Tatsache eine blödsinnige absichtliche Spekulation auf den Sozialismus zur Erklärung heranziehen zu müssen glaubt, wer mit solchen Argumenten die Schädlichkeit der Theorie für die Gewerkschaften darzutun glaubt, der macht sich buchstäblich zum Apostel einer gewerkschaftlichen Verblödung.

Und ganz denselben Geist atmet die folgende Notiz aus dem „Correspondenten der Buchdrucker“ vom 7. d. M.: Zu einem außerordentlichen Kampfmittel haben die Setzer in Pest gegriffen. Sie weigerten sich nämlich, solche Zeitungen zu setzen, welche gegen das allgemeine Wahlrecht sich wenden oder die Sozialdemokratie in gehässiger Weise angreifen. Infolgedessen haben anfangs dieser Woche sechs Blätter nicht erscheinen können. Außerdem fanden vor den Redaktionen der Zeitungen, die gegen das allgemeine Wahlrecht sind, große Volkskundgebungen statt. In der Druckerei des „Budapesti Hirlap“ wurden die Fenster eingeworfen und zwei Maschinen beschädigt. Das ungewöhnliche Vorgehen der Pester Kollegen erscheint nur unter dem Gesichtspunkte der außergewöhnlichen Umstände erklärlich. Es bleibt zu wünschen, daß diese Vorgänge nicht etwa störend eingreifen in die eben erst auf friedlichem Wege zu Ende geführte Tarifbewegung.

Wer bei dem großartigen Wahlrechtskampfe des österreichisch-ungarischen Proletariats[1] keine wichtigere Sorge hat als die Frage, ob denn dieser Kampf nicht etwa der – Tarifbewegung in die Quere kommt, der zeigt, wohin die Verachtung für die „Theorie“ führt, und erweist sich selbst als ein klassischer Typ des Gewerkschaftskretinismus.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 291 vom 13. Dezember 1905.

Zum „Vorwärts“-Konflikt

Der Verlag G. Birk u. Co. erklärt in der „Münchener Post“: In Nr. 288 des „Vorwärts“ vom 9. d. M. befindet sich folgende Notiz: „Die sechs ausgeschiedenen Redakteure des ‚Vorwärts‘ haben im Verlage Birk u. Co. in München eine Broschüre unter dem Titel: Der ‚Vorwärts‘-Konflikt, gesammelte Aktenstücke, veröffentlicht, worin sie ihren Briefwechsel mit dem Parteivorstand und der Preßkommission, sowie ihre Repliken mit entsprechenden Einleitungs- und Schlußglossen vorlegen.[2] Wir werden auf diese Broschüre noch zurückkommen, vorläufig sei nur folgendes konstatiert: In dem Augenblick, wo wir dies schreiben, ist die gegen den Parteivorstand gerichtete

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[1] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.

[2] Siehe Ein gefundenes Fressen. In: GW, Bd. 6, S. 888.