Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 745

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/745

Die Revolution in Rußland

[1]

Einen neuen Schritt hat die Revolutionsbewegung in ihrer Entwicklung getan: Allgemeiner Streik der Post- und Telegraphenbeamten, das ist das Neueste, was aus Rußland gemeldet wird. In diesem Augenblick ist das Zarenreich wieder einmal von der Außenwelt abgeschnitten, der Absolutismus ist unter Belagerungszustand, aber nicht durch die Aktion der Eisenbahner, sondern durch die des Post- und Telegraphenpersonals. Diese Schicht tritt jetzt zum ersten Mal mit einer selbständigen allgemeinen Aktion auf den Kampfplatz der Revolution. Und die bewundernswerte Einmütigkeit und Raschheit dieser Aktion sind ebenso bemerkenswert wie ihr Anlaß. Die Beamtenschaft der Post und Telegraphie sympathisierte schon lange mit dem kämpfenden Proletariat. Bei den Generalstreiks schloß sie sich meist der Arbeiterschaft an. In den letzten Wochen, bei dem allgemeinen fieberhaften Drang der Industriearbeiter zur Organisation, haben auch die Post- und Telegraphenbeamten dem Beispiel folgen und für sich eine feste Berufsorganisation schaffen wollen. Die Regierung begriff wohl das Gefährliche dieser Bestrebung, und womit sie sich an die industriellen Arbeiter nicht heranwagt, das glaubte sie noch ihren direkten „Untergebenen“, den Beamten bieten zu können: Ein schroffer Ukas, der jede berufliche Verbindung der Staatsbeamten untersagte, wurde in den letzten Tagen veröffentlicht. Doch auch hier heißt es: Zu spät! Die einst so unterwürfigen und schüchternen russischen Beamten spüren auch in ihren Adern die Kraft und das revolutionäre Feuer, die von dem gewaltigen und heldenhaften Klassenkampf des Proletariats ausströmen. Auf den Ukas wurde als Antwort der sofortige Generalstreik beschlossen – und auch ausgeführt! Im ganzen Riesenreich bewegen sich nunmehr zehntausende, hunderttausende Revolutionäre wie ein Mann, die Organisation, die Disziplin – sie sind bereits in einem Grade vorhanden, wie wir davon in Deutschland nicht träumen können. Welcher Fortschritt seit dem 22. Januar![2] Organisierte, zielbewußte Industrieproletarier, rebellierendes politisch klares Heer und Marine, stramm und kühn kämpfendes Staatsbeamtentum… Und wieder stehen wir vor der großen historischen Wahrheit: Die Revolution schafft und wirkt an Aufklärung und Organisation in wenigen Wochen, was mit den

Nächste Seite »



[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.