Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 311

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Weltpolitik und Sozialdemokratie. Rede am 13. Dezember 1900 in einer Volksversammlung in Eimsbüttel

[1]

Nach einem Polizeibericht

Werte Genossen & Genossinnen.

Deutschland und alle kapitalistischen Staaten sind etwa seit fünf bis sechs Jahren sozusagen plötzlich wie über Nacht in den Strudel der Weltpolitik geraten, man weiß nämlich selbst nicht wie. Erst seit fünf bis sechs Jahren ist es in die Erscheinung getreten, daß das Wort „Weltpolitik“ gebraucht worden ist. Heute wird das Wort „Weltpolitik“ im Parlament, bei jeder öffentlichen Kundgebung usw. gebraucht. Diese Weltpolitik übt nun einen sehr großen Einfluß auf die inneren sozialpolitischen Verhältnisse des Landes aus, und man kann wohl behaupten, daß, wenn diese Weltpolitik so vorwärtsschreitet, den sozialen Verhältnisse im Lande wenig Beachtung mehr geschenkt werden kann. Und Genossen u. Genossinnen, jetzt ist erst die Weltpolitik fünf, sechs Jahre im Gange, welche blutigen Kriege hat diese Politik schon gefordert, es sind bereits fünf solche Kriege, wovon noch drei im Gange sind, zu verzeichnen. Wie viel Geld u. Menschenopfer und Elend solche Kriege bringen, werden Sie wohl alle wissen. Sogar Amerika, ein freiheitlicher Staat, wird plötzlich ebenfalls von Ländergier befallen, will auch Weltpolitik treiben und so, wie ich schon sagte, alle Staaten. Auch Deutschland ist in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben. Solange wie es von Bismarck regiert wurde, wollte man hier von einer Kolonialpolitik nichts wissen. So manche Sünde, die dieser Staatsmann Bismarck bezüglich der inneren Politik auf sich hat, so muß man aber doch anerkennen, daß er von einer Weltpolitik nichts wissen wollte. Noch 1884 hat Bismarck alle diese Forderungen energisch zurückgewiesen. Bismarck erklärte, unsere Absicht ist nicht, Provinzen zu gründen, sondern den deutschen Handel zu schützen.[2] Wie anders sieht es heute in Deutschland aus. Heute

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[1] Diese war eine der drei im Hamburger Echo, Nr. 290 vom 13. Dezember 1900 angekündigten Volksversammlungen der deutschen Sozialdemokratie im dritten Hamburger Wahlkreis, an der laut Polizeibericht 500 Personen, darunter 200 Frauen, teilnahmen.

[2] Gegenüber Moritz Busch, Pressemitarbeiter im Auswärtigen Amt, hatte Bismarck am 9. Februar 1871 erklärt: „Ich will auch gar keine Kolonien. Die sind bloß zu Versorgungsposten gut. In England sind sie jetzt nichts andres, in Spanien auch nicht. Und für uns in Deutschland – diese Kolonialgeschichte wäre für uns genauso wie der seidne Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die kein Hemd haben.“ Moritz Busch: Tagebuchblätter, Bd. 2, Leipzig 1899, S. 157. – Am 26. Juni 1884 hatte er in seiner Rede vor dem Reichstag gesagt: „Unsere Absicht ist, nicht Provinzen zu gründen, sondern kaufmännische Unternehmungen, aber in der höchsten Entwickelung, auch solche, die sich eine Souveränität, eine schließlich dem Deutschen Reich lehnbar bleibende, unter seiner Protektion stehende kaufmännische Souveränität erwerben, zu schützen in ihrer freien Entwickelung sowohl gegen die Angriffe aus der unmittelbaren Nachbarschaft als auch gegen Bedrückung und Schädigung von seiten anderer europäischer Mächte. […] bei diesem System überlassen wir dem Handel, dem Privatmann die Wahl, und wenn wir sehen, daß der Baum Wurzel schlägt, anwächst und gedeiht und den Schutz des Reiches anruft, so stehen wir ihm bei, und ich sehe auch nicht ein, wie wir ihm das rechtmäßig versagen können.“ Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode. IV. Session 1884. Zweiter Band, Berlin 1984, S. 1062.