Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 664

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/664

Agrarier und Revolution

[1]

Noch ist nicht abzusehen, welchen Gang die Dinge in Rußland nehmen werden, aber man darf auf keinen Fall erwarten, die Revolution werde bald ein Ende nehmen. Der Gegensatz zwischen der elenden Lage der arbeitenden Massen des Zarenreiches und dem Kraftbewußtsein, das sie erlangt, ist zu gewaltig, als daß er sie nicht immer wieder weiter vorwärtstreiben müßte, bis sie entweder ihre Kraft erschöpft oder eine wesentliche Hebung ihrer Lage erlangt haben. Nach kürzeren oder längeren Ruhepausen muß die Revolution immer wieder von neuem aufflammen, für Jahre hinaus.

Je länger sie aber dauert, desto mehr muß sie auch das übrige Europa in Bewegung versetzen, vor allem die Nachbarländer. Österreich, innerlich völlig zerklüftet, mit einer haltlosen Regierung und einem feurigen Proletariat, kam zuerst dran.[2] Wird aber die Bewegung vor Deutschland Halt machen? Sicher nicht. So ungeheure Umwälzungen wie in Rußland können im Zeitalter des Weltverkehrs nicht spurlos an Nationen vorübergehen, in denen die Klassengegensätze ohnehin schon aufs höchste gespannt sind. Daß auch Deutschland sich regt, ist unausbleiblich, aber damit ist noch nichts darüber gesagt, welche Formen die Bewegung annehmen wird. Nicht von uns hängt das ab, sondern von zahlreichen Verhältnissen, die wir nicht beherrschen. Wir wollen hier absehen von den Bedingungen der äußeren Politik, die gewaltige Konflikte in ihrem Schoße bergen, und uns nur an die Aussichten der inneren Politik halten. Da finden wir als gewaltigsten Antrieb zu einer Politik schwerer Konflikte das Agrariertum.

Bleibt die Regierung der gehorsame Kommis der Agrarier, dann treibt sie ein gefährliches Spiel, dann tut sie alles, den Klassenkämpfen brutalere Formen zu verleihen, obgleich ihr doch ihr eigenes Interesse gebieten müßte, gerade jetzt möglichst versöhnlich aufzutreten.

Nächste Seite »



[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 372 ausgewiesen.

[2] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.