Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 665

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Es wirkt nicht sehr viel versprechend, daß sie der Fleischnot gegenüber völlig passiv blieb, die ganze Masse der Bevölkerung gegen sich erregte im Interesse der Agrarier. Die Teuerung der Lebensmittel dürfte aber nicht abnehmen, sie droht zu wachsen infolge der russischen Ereignisse. Der Bauer und der Proletarier Rußlands waren bisher unterernährt, das ist längst zahlenmäßig erwiesen. Jetzt bietet ihnen die Revolution die Möglichkeit, die Lebensmittel zu behalten, die sie selbst produzieren; sie zu behalten, um sie zu konsumieren statt auszuführen. Die Ausfuhr von Lebensmitteln aus Rußland muß sinken, um so mehr, als die jüngste Ernte in vielen Gegenden des Reiches eine totale Mißernte gewesen ist.

In dieser Situation wird die Durchführung des neuen Brotwuchertarifs beginnen,[1] und da gibt es noch Burschen, die den Mut haben, Stimmung für einen Zollkrieg mit Amerika zu machen. Während wir immer weniger in der nächsten Zeit auf russisches Getreide und Petroleum rechnen dürfen, soll noch dem amerikanischen Getreide und Petroleum die Einfuhr unmöglich gemacht werden! Ein Zollkrieg mit den Vereinigten Staaten wäre unter allen Umständen eine bedenkliche Sache. Seine Kosten hätte vor allem das Proletariat zu bezahlen, seine Gewinne – wenn er zu solchen überhaupt führt – fielen ausschließlich den Brotwucherern in die Hände. Aber zur Zeit der russischen Revolution an einen Zollkrieg mit Amerika denken, heißt für das Proletariat in einer Zeit der höchsten Erregung eine verzweifelte Situation absichtlich provozieren, ist eine gewissenlose Tollheit.

Während aber die Lebensmittelpreise immer mehr wachsen, bleiben die Löhne auf der alten Stufe. Selbst große Streiks der bestorganisierten Arbeiterschichten vermochten sie in der letzten Zeit nicht zu steigern. In unseren eigenen Reihen wurde viel darüber gestritten, ob solche Streiks, wie der der Bergarbeiter[2] oder der in den elektrischen Industrien Berlins,[3] mit Niederlagen geendet hätten oder nicht. Die Beantwortung der Frage hängt davon ab, auf welche Seite des Kampfes man den Nachdruck legt. Die Streiks endeten mit einer Niederlage insofern, als sie ihr Ziel nicht erreichten, die Unternehmer zu zwingen, den Arbeitern bessere materielle Bedingungen zu gewähren. Aber sie endeten siegreich insofern, als die gewerkschaftlichen Organisationen aus ihnen nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgingen, nicht entmutigt, sondern kampflustiger als je. So bildeten diese Streiks nur die Einleitung zu neuen größeren Kämpfen, die um so erbitterter sein werden, je gewaltiger die Erfolge unserer russischen Brüder und somit das Kraftgefühl der Kämpfenden, und je

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[1] Der am 14. Dezember 1902 vom Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossene Zolltarif sollte am 1. März 1906 in Kraft treten. Die Lebensmittelpreise würden enorm ansteigen, denn die Großhandelspreise sollten sich 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln 2, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um acht Prozent erhöhen. Siehe auch S. 411, Fußnote 2 und S. 413, Fußnote 4.

[2] Gemeint ist der Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 von rund 215000 Bergarbeitern. Sie forderten die Achtstundenschicht, höhere Löhne, Garantien für die Grubensicherheit und die Beseitigung aller Schikanen wegen politischer Tätigkeit. – Ein Streik und Aussperrungen von 36000 Textil- und Färbereiarbeitern in Gera, Glauchau, Greiz, Meerane u. a. Orten im Kampf um höhere Löhne fand vom 20. Oktober bis 28. November 1905 statt. Er wurde vom Vorstand des Textilarbeiterverbandes abgebrochen, ohne daß Ergebnisse erzielt worden waren.

[3] Der Streik und die Massenaussperrung in der Berliner Elektroindustrie hatten vom 19. September bis 15. Oktober 1905 stattgefunden. Die staatlichen Behörden unterstützten die Elektrokonzerne AEG und Siemens & Halske durch Einsatz von Feuerwehrleuten, Eisenbahnern und Militär zu Streikbrecherdiensten. Der Kampf der etwa 40000 Arbeiter wurde abgebrochen, als der Verband der Berliner Metallindustriellen für den 14. Oktober 1905 die Aussperrung weiterer 120000 Arbeiter ankündigte.