Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 666

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schärfer der Stachel der Not, je höher die Preise der Lebensmittel, je unzureichender die Löhne, je erfolgreicher die agrarische Politik. Diese muß Öl ins Feuer gießen.

Aber neben heftigeren Lohnbewegungen [in] der Industrie haben wir im kommenden Frühjahr auch eine starke Landarbeiterbewegung in Ostelbien zu erwarten. Der ostelbische landwirtschaftliche Großbetrieb kann seine Arbeiter nicht festhalten, sie entfliehen ihm und wenden sich der Industrie zu. Er muß sie ersetzen durch Zuzügler vom Osten, namentlich Polen aus russischen und österreichischen Gebieten. Der polnische Landarbeiter wird jedoch im nächsten Frühjahr ein ganz anderer Mensch sein, als er es noch im letzten gewesen. Er hat ein Jahr der Revolution hinter sich, er hat sich gewöhnt, dem Gendarmen zu trotzen, hat den Grundherrn vor sich zittern gesehen. Sollte er wieder als Wanderarbeiter die preußische Grenze überschreiten, dann kommt er nicht mehr als Streikbrecher, sondern als revolutionärer Agitator. Aber auch wenn er nicht wiederkommt, wenn er es im kommenden Jahre vorzieht, auf heimischer Scholle um ein besseres Dasein zu ringen, auch dann wird der Geist, der ihn beseelt, vor den schwarzweißen Grenzpfählen nicht Halt machen. Unsere Agrarier haben im nächsten Frühjahr mit Leutenot und Lohnbewegungen zu rechnen.

Wie immer werden sie auch diesmal an die brutale Gewalt appellieren, an das Koalitionsunrecht der Landarbeiter, an die Polenfeindschaft der Regierung. Aber was schon in früheren Jahren kaum mehr einschüchternd wirkte, muß heute in der Nachbarschaft der russischen Revolution das Landproletariat direkt aufpeitschen. Gegenüber dem Brande im Nachbarhause, dessen Flammen lichterloh aufschlagen, ist bei uns nichts feuergefährlicher als die geflickten Strohdächer der Agrarier.

Werden die deutschen Regierungen deren brutalen Instinkten gehorchen und wild ins Feuer hineinschlagen, daß die Funken nach allen Seiten herumfliegen und ein neuer Brand sich um so leichter entzündet? Noch ist die innere Politik Deutschlands in einem Stadium, in dem die Regierung durch rechtzeitiges Entgegenkommen dem anschwellenden Strom ein ruhiges Bett anweisen kann. Eine proletarierfreundlichere Zollpolitik, ein Aufgeben der Polenhetze, ein weitgehendes Arbeiterschutzgesetz, das zum gesetzlichen Achtstundentag führt, das Koalitionsrecht für die Landarbeiter, und endlich und nicht zum mindesten das gleiche und geheime Wahlrecht zu den Landtagen, das sind Maßregeln, durch deren Gewährung die Regierungen sehr wohl bewirken könnten, daß die verschärften Klassengegensätze in Deutschland in weniger erregten Formen ausgekämpft werden als in unseren Nachbartstaaten.

Werden aber die Regierungen die Kraft, den Mut, die Einsicht haben, die Agrarier abzuschütteln, um aus eigenem Antrieb eine solche Ära der Reformen einzuleiten? Wer von uns traute wohl dem heutigen preußisch-deutschen Regime eine solche Weisheit zu! Aber das ist Sache der Regierung. Wir haben uns ihren Kopf nicht zu zerbrechen.

Jedoch nicht bloß für sie, auch für uns ist ein großer Moment gekommen. Die Stagnation, die unser Wirken so lange hemmte, ist im Weichen, wir gehen einer Epoche gewaltiger Bewegungen entgegen, einer Epoche, in der wir große, einschneidende

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