Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 331

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Bürgerliche Sozialreform und Sozialdemokratie. Referat am 24. Juni 1901 in einer Volksversammlung im Gewerkschaftshaus in Breslau

Nach einem Zeitungsbericht

In letzter Zeit erlebten die deutschen Arbeiter ein merkwürdiges Schauspiel. Niemals zuvor hat die Arbeiterklasse so viele wohlwollende bürgerliche Gönner gefunden wie eben jetzt. Leitende Staatsmänner, Parteiführer, Sozialpolitiker, ordentliche und außerordentliche Professoren bemühen sich um die soziale Wohlfahrt der arbeitenden Klassen und es ist keiner, der nicht wenigstens einen Vortrag gehalten hat über Besserung der Lage der Arbeiter. Alle aber sind einig in der Überzeugung, daß die eigene Partei der Arbeiter, die sozialdemokratische, gar nichts tauge. Gekrönte Sozialpolitiker versprechen, diese Partei zu zerschmettern, pfiffige Parteimänner suchen derselben durch gefährliche sozialreformerische Konkurrenz das Lebenslicht auszublasen, wild gewordene Privatdozenten wollen ihr mit Zuchthausvorlagen oder mit Belagerungszustand das Leben schwer machen und ruhig gewordene ordentliche Professoren hoffen dieser Partei mittels diplomatischer Behandlung die Giftzähne ausziehen zu können. Aller Absicht aber ist die Vernichtung der Partei, die doch ausschließlich für die Arbeiter, die Schützlinge unserer bürgerlichen Sozialreformer, eintritt.

Wie ist das zu erklären? Die Antwort gibt uns ein Blick auf die Geschichte der Sozialreform wie der Arbeiterbewegung aller Länder. In England wurde s[einer) Z[eit], als der Aufschwung der fabrikmäßigen kapitalistischen Produktionsweise erst seinen Anfang nahm, die Theorie von der Nichteinmischung des Staates in die wirtschaftlichen Verhältnisse aufgestellt. Nach wenigen Jahren der unumschränkten Anerkennung und Anwendung dieser Theorie aber war die Degeneration, die Vertierung des englischen Arbeiters infolge der rücksichtslosesten Raubgier des kapitalistischen Ausbeutertums so weit fortgeschritten, daß es einsichtigeren Vertretern der bürgerlichen Gesellschaft klar wurde, so könne es nicht mehr weitergehen, und zwar im Interesse des kapitalistischen Staates selbst. So entstanden dann die ersten Spuren bürgerlicher Sozialreform. Die Zehnstundenbill[1] war der Sieg eines neuen Prinzips, der bewußten Einmischung des kapitalistischen Staates in den eigenen Lebensprozeß, im Interesse des eigenen Bestehens dieses Staates. Die Manchestertheorie[2] war

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[1] Gemeint ist das Gesetz über die Beschränkung des Arbeitstages für Frauen und Jugendliche auf zehn Stunden, das das englische Parlament am 8. Juni 1847 beschlossen hatte.

[2] Diese Theorie orientierte auf eine Richtung in der bürgerlich-liberalen Wirtschaftspolitik, die auf den Freihandel setzte, den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz entsprach und vor allem für die Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft eintrat. Ihr Name geht auf die englische Industriestadt Manchester zurück.