Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 332

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verabschiedet. Diese bürgerliche Sozialreform war somit ein Produkt der Angst. Die allmählich sich entwickelnde Bewegung der Arbeiter gegen das volksverwüstende Treiben des Kapitalismus, die furchtbaren Erfahrungen, die in England die Chartistenbewegung[1] den Herrschenden bot, sie ließen diese Bedacht darauf nehmen, dem Arbeiter etwas zu bieten, um auch ihn am Bestehen des kapitalistischen Staates zu interessieren. Nicht anders kann die Sozialreform Napoleons des Kleinen,[2] seine Unterstützung der Hilfskassen etc. betrachtet werden. Sie hatte nur den Zweck, den Arbeitern den Glauben beizubringen, daß sie am Wohlergehen des Staates genau so interessiert seien, wie die herrschenden Klassen. Und Bismarck machte es Napoleon getreulich nach, als er seine Sozialreform durchführte. Er sagte ganz offen im Reichstage: „Ich habe lange genug in Frankreich gelebt, um zu wissen, daß die Anhänglichkeit der meisten Franzosen an die Regierung wesentlich damit in Verbindung steht, daß dieselben Rentenempfänger vom Staate sind. Die Leute sagen: wenn der Staat zu Schaden geht, dann verliere ich meine Rente, und wenn es 40 Francs im Jahre sind, so mag er sie nicht verlieren, und er hat Interesse für den Staat. Wenn wir 700000 kleine Rentner haben, die vom Reiche ihre Rente beziehen, gerade in diesen Klassen, die sonst nicht viel zu verlieren haben und bei einer Veränderung irrtümlich glauben, daß sie viel gewinnen können, so halte ich das für einen außerordentlichen Vorteil.“[3]

Nicht minder bildete das allgemeine Wahlrecht einen Ansporn für das bürgerliche Gewissen. Wenn man nicht irgendetwas für die Masse der Arbeiter tun wollte, müßte man den Zeitpunkt immer schneller herankommen sehen, wo diese Massen restlos zur Sozialdemokratie übertreten. Sind doch manchesterliche Parteien, wie z. B. die Freisinnigen[4], schon längst diesen Weg gegangen. Daher, aus dieser Furcht vor der Sozialdemokratie die kleineren sozialpolitischen Mittelchen, die im Deutschen Reichstage zurechtgemacht werden zu einem Schaugericht bürgerlicher Sozialreform. Aber schon von vornherein ging immer und überall diese Sozialpolitik Hand in Hand mit

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[1] Die Chartistenbewegung entstand 1836/37, nachdem bei der britischen Wahlrechtsreform von 1832 weiterhin sechs Siebentel der männlichen Bevölkerung vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen blieben, während die wohlhabenden städtischen Mittelschichten ihr Gewicht erhöhten. Die demokratische Bewegung sah dies als Verrat durch die „Mittelschichten“ an und stellte ihrerseits sechs Forderungen der Charta auf, darunter ein allgemeines Wahlrecht für Männer und die jährliche Wahl des Parlaments. Daraus entstand die erste politische Massenorganisation der Arbeiter. Obwohl die Chartisten Millionen Menschen für die Charta gewannen, scheiterte die Bewegung endgültig 1848 an dem entschlossenen Widerstand der herrschenden Klassen.

[2] Gemeint ist die Sozialreform von Napoleon III. nach 1860. Victor Hugo hatte Louis Bonaparte in einer Rede vor der gesetzgebenden Versammlung 1851 als Napoleon den Kleinen bezeichnet.

[3] Rede Otto von Bismarcks am 18. Mai 1889 in der dritten Lesung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VII. Legislaturperiode. IV. Session 1888/1889, Dritter Band, Berlin 1889, S. 1835. Rosa Luxemburg zitiert mit Auslassungen und Hervorhebungen.

[4] Gemeint ist die Freisinnige Volkspartei, deren führender Vertreter Eugen Richter war.