Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 333

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Versuchen der gewaltsamen Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Und auch hier hatte Bismarck mit seinem Sozialistengesetz[1] Napoleon den Kleinen getreulich kopiert. Und haben wir nicht in unserer neuesten sozialpolitischen Epoche der Februar-Erlasse zugleich das Zuchthausgesetz gehabt?[2] (Beifall.) Es hat aber den Herren nie etwas geholfen. Das bißchen Zuckerbrot haben wir schmunzelnd eingesteckt, die Peitsche des Sozialistengesetzes aber haben wir zerbrochen und ihrem Vater vor die Füße geworfen. (Lebhafter Beifall.) Und nicht glücklicher sind die französischen Gewalthaber gewesen. Das furchtbare Blutbad in Paris vor dreißig Jahren[3] hat die gewaltige Entwicklung der sozialistischen Bewegung Frankreichs nicht hindern können.

Die herrschenden Klassen sind eben in einer Zwickmühle: Versuchen sie es mit der Peitsche, dann kommen infolge des ungerechten Druckes die Massen sicher zu uns, zur Sozialdemokratie. Und versuchen sie es mit dem Zuckerbrot, dann finden wir auch dabei unsere Rechnung: Wenn infolge sozialreformerischer Maßnahmen die Lage des Arbeiters sich um ein Weniges bessert, so dient das um so mehr auch zur geistigen Entwicklung desselben und damit zu der Erkenntnis, daß sein Platz in den Reihen der Sozialdemokratie sein muß. Was man auch unternehmen mag gegen uns, es schadet uns nicht, sondern nutzt uns – der beste Beweis für die historische Notwendigkeit der Sozialdemokratie. (Beifall.) Der Sozialismus erwies sich somit als unausrottbar.

Besonders vorwitzige bürgerliche Sozialpolitiker sind deshalb auf eine sehr schlaue Idee verfallen. Sie suchen dem Arbeiter einzureden, daß er es gar nicht nötig habe, extra noch auf eine völlige soziale Umwälzung hinzuarbeiten, daß er dasselbe vielmehr durch gewerkschaftliche Organisation, durch Genossenschaften, Sozialreformen, durch die Selbstverwaltung in der Gemeinde Stück um Stück, aber sicher erreichen werde. So in 500 Jahren gelangen wir so zum völligen Sieg des Sozialismus. Wenn die Arbeiter sich indes auf diesen Boden stellen sollten, können sie sicher sein, daß das Ziel, welches der Sozialismus sich gesteckt, auch in tausend Jahren noch nicht erreicht ist.

Es kann meine Aufgabe nicht sein, die neueste Lehre der Herren Sozialreformer in ihrem ganzen Umfang und in allen Details hier kritisch zu beleuchten. Hier genügt schon eine kurze Betrachtung. Halten wir uns an die Tatsachen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seit die Sozialreform begonnen hat. Einsichtsvollere

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[1] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag angenommene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft.

[2] Gemeint sind zwei Erlasse Wilhelms II. zur Arbeiterschutzgesetzgebung vom 4. Februar 1890, die das Ergebnis des Scheiterns der Bismarckschen Sozialpolitik und das der ökonomischen und politischen Massenkämpfe deutscher Arbeiter waren. Wilhelm II. schränkte sie noch am selben Abend ein. Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.

[3] Die Pariser „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 führte zur konterrevolutionären Niederschlagung der Pariser Kommune, die am 18. März begonnen hatte. Beim brutalen Vorgehen der Versailler Regierungstruppen, verstärkt durch vorzeitig aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassene Truppen und begünstigt durch die im Raum Paris stationierten deutschen Armeekorps, wurden etwa 30000 Kommunarden getötet und etwa 85000 verhaftet, deportiert und zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt.