Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 334

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Staatsmänner, besonders aber die Arbeiterparteien aller Länder, haben ihre Kräfte daran gesetzt, um die Sozialreform vorwärtszubringen. Und welches ist der Erfolg? Auf dem wichtigsten Gebiete, der gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit auch für die männlichen Arbeiter sind nur in Österreich und in der Schweiz [und] neulich in Frankreich Bestimmungen erreicht worden, während in allen übrigen Kulturstaaten bisher so gut wie nichts erreicht wurde. In England hatte man bereits 1847 den zehnstündigen Arbeitstag für Frauen und Kinder eingeführt, ihn 1850 aber wieder auf 10½ Stunden heraufgeschraubt, und erst in späteren Jahren wurde er für die Textilindustrie wieder auf zehn Stunden herabgesetzt. Ebenso mangelhaft ist die gesetzliche Festlegung der Arbeitsdauer in den übrigen Staaten; nach kleinen Anfängen ist nirgends seit Jahren ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen. Nur des Bergbaus, wo besondere Lebensgefahr vorliegt, nimmt man sich neu[er]lich an.

In gleicher Weise langsam geht es auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung vorwärts. Eigentlich sind Ansätze zu Alters- und Invalidenversicherung erst in Deutschland vorhanden, und erst in allerjüngster Zeit will Frankreich folgen. Diese Tatsache aber wird auch den deutschen Arbeitern immer wieder und mehr als zur Genüge unter die Nase gerieben. Und doch, wie mangelhaft ist das Arbeiter-Versicherungswesen auch in Deutschland noch? Falls der Arbeiter nach hartem Leben voller Entbehrungen das Glück hat, 70 Jahre alt zu werden, dann erhält er als schönen Preis seines arbeitsreichen Lebens ganze 39 Pf. tägliche Altersrente! Und der Invalide? Er bekommt noch weniger; denn seine Rente beträgt im Durchschnitt 131½ M. jährlich. Ich möchte einmal die Probe auf das Exempel machen und einen jener arbeiterfreundlichen Professoren auf eine ähnliche Rente angewiesen sehen. Seine Begeisterung für die Sozialreform würde nicht 24 Stunden standhalten. Und ich fürchte sogar, der gesinnungstüchtigste preußische Beamte würde in dieser Lage auf umstürzlerische Gedanken kommen. (Bravo!) Noch weniger als in Deutschland ist in den anderen Staaten erreicht. In Frankreich sehen wir erst jetzt, seit die radikale Partei am Ruder ist, einen Anfang, und auch dieser Anfang ist voller Widersprüche und Halbheiten. Denn während der elfstündige Arbeitstag der Männer nur durch die Gleichstellung der Frauen und Kinder auf diesem Gebiete erkauft wurde, richtet sich das zweite Waldeck-Millerandsche Gesetz vom obligatorischen Streik und den obligatorischen Schiedsgerichten tatsächlich gegen den Streik, es macht den Streik zum Unsinn und bricht den Gewerkschaften das Genick. Die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften Frankreichs haben sich gegen das Gesetz erklärt, ebenso die deutschen und österreichischen Gewerkschaftsführer. Und die neue französische Vorlage für Invalidenversicherung, sie steht noch weit hinter den deutschen Gesetzen zurück. Noch schlimmer sieht es in Italien und Belgien aus. Alles in allem – die gesetzliche sozialreformerische Ausbeute des 19. Jahrhunderts beschränkt sich auf einige wenige und noch dazu recht armselige Gesetze. Es ist klar, wenn das Tempo der Sozialreform so weiter ginge, dann würde die Reise in den Zukunftsstaat bis zum jüngsten Gericht dauern.

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