Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 799

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Die Revolution in Rußland

[1]

Nach kaum sechsstündigem Dienst wurde der telegraphische Verkehr mit dem Zarenreich um Mitternacht wegen beschädigter Linie sowie Betriebseinstellung des dänischen Kabels wieder eingestellt. In Moskau hält sich der Post- und Telegraphenstreik nach wie vor. Den Streikenden gehen bedeutende Spenden aus der Gesellschaft zu. Jeden Tag finden Zusammenstöße mit der Polizei und dem Militär statt. Das Exekutivkomitee der Petersburger Abteilung des Post- und Telegraphenverbandes nahm eine Resolution an, in welcher erklärt wird, trotz des Tagesbefehls Durnowos[2] werde der Verband auf Grundlage des Manifestes vom 30. Oktober bestehen.[3] Die Rebellen seien nicht die Post- und Telegraphenangestellten, der Rebell sei Durnowo, der das kaiserliche Manifest verletze. An der Moskauer Börse sind Gerüchte über bedeutende Fallissements [Bankrotte] verbreitet. Im Gouvernement Nowgorod kam es zu einem blutigen Handgemenge. Auf der Bahnstation Woromenka sandten die von der Polizei aufgestachelten Bauern nach dem Staatsanwalt und nach Militär. Sieben „Agitatoren“ wurden verhaftet, gegen die Anklage wegen „Aufreizung zum Aufstande“ erhoben wird.

Aus dem Fabrikort Orechowo-Sujewo bei Moskau wird ein blutiger Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Kosaken gemeldet. Drei Kosaken wurden durch Schüsse getötet.

Das Parteiblatt „Nowaja Shisn“ [Neues Leben] meldet, der Vorsitzende des Arbeiterdeputiertenrats Chrustalew befinde sich auf der Peter-Pauls-Festung, wo Maßnahmen getroffen seien für den Fall eines Versuches der Arbeiter, ihn zu befreien. Das Haupttor sei geschlossen, im Hofe seien Geschütze aufgestellt, die Wachen verstärkt.

Privatmeldungen aus Riga schildern die dortige Lage als höchst ernst. Beim Bahnhofe ist ein Geschütz aufgefahren, bei der Post ein Maschinengewehr. Das Militär wird aber als nicht zuverlässig betrachtet. Lettische Sozialdemokraten sollen Herren der Stadt sein.

Der „Ruß [Otetschestwa]“ [Rußland] veröffentlicht ein von Mannschaften der 6. Sappeurbrigade in Moskau unterzeichnetes Telegramm, worin sie mitteilen, die

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.

[3] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.