Der Mord in Warschau
[1]Die Leser wissen bereits aus den telegraphischen Meldungen, daß am 1. Mai in Warschau eine neue unerhörte Bluttat von den Zarenschergen verübt worden ist. Jetzt erhalten wir ausführliche Nachrichten über die verruchte Freveltat der Knutenregierung. Ein Mord, ein Meuchelmord aus dem Hinterhalt mit kaltblütigster Überlegung, begangen an wehrlosen, ruhigen Massen, an Frauen und Kindern, an Volksmassen, die sich an die Soldateska mit brüderlichen Worten wandten. Die Feder versagt und die Sprache hat keine Worte, um diese kalmückische Niedertracht zu kennzeichnen. Das einzig tröstliche und versöhnende Moment in den erschütternden Berichten, die der Leser unten findet, ist die grell zu Tage tretende Tatsache: Der Heroismus der Arbeitermassen, die hohe politische Reife, die Zielsicherheit und die revolutionäre Tatkraft des Proletariats, die uns dafür Gewähr leisten, daß die Tage der bestialischen Herrschaft der Knute denn doch gezählt sind.
Warschau, 1. Mai, 10 Uhr abends. (Eig. Ber.) Vom frühen Morgen schon hatte die Stadt ein außergewöhnliches, feierliches Aussehen. Alle Läden geschlossen, keine Droschken, keine Tramwagen zu sehen. In den Straßen wimmelt es von festlich gekleidetem Arbeiterpublikum, das bürgerliche harrt der kommenden Dinge – in wohl verschlossenen Wohnungen. Gegen 11 Uhr war schon in der Wroniastraße eine vieltausendköpfige Menge versammelt, da die Sozialdemokratie für 12 Uhr an diesem Punkt den Beginn des Umzuges festgesetzt hatte. Pünktlich in der Mittagsstunde erschienen die Redner der Partei, ein Arbeiter wurde auf die Schultern der anderen gehoben und hielt eine Ansprache über die Bedeutung des 1. Mai und den Kampf mit dem Absolutismus. Die Rufe zum Schluß: Es lebe der Achtstundentag! Es lebe die Republik! Es lebe die Sozialdemokratie! wurden mit unbeschreiblicher Begeisterung von der Menge wiederholt. An der Spitze des Zuges wurde eine Riesenfahne aus roter Seide entfaltet, auf der mit goldenen Lettern gestickt war: Fort mit dem Kriege! Es lebe der Frieden! Es lebe die Revolution! Es lebe die Republik! Und auf der anderen Seite: Es lebe die Sozialdemokratie Polens und Litauens! Ferner wurden im Zuge noch sieben rote Fahnen der Sozialdemokratie getragen, unter anderen zum ersten Mal die Fahne der „Sozialdemokratischen Organisation der studierenden Ju-
[1] Dieser Bericht ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Leo Jogiches vom 6. Mai 1905 ist sie wahrscheinlich die Verfasserin, siehe GB, Bd. 2, S. 90. Die RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), weist ihn unter Nr. 333 aus.