Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 654

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Nach dem Bankrott des Absolutismus

[1]

„Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste,

immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder.“[2]

Das „Kommunistische Manifest“.

Der jüngste Eisenbahnerstreik in Rußland, der plötzlich eine neue Wendung in den Gang der Revolution herbeigeführt hat, tritt für den Augenblick von der Bühne ab. Ein bestimmter Abschnitt der Revolution ist damit wieder abgeschlossen. Welches ist die nunmehr geschaffene Situation und wie wird der weitere Gang der Dinge voraussichtlich sein – das ist die Frage.

Oberflächlich betrachtet, bietet das Zarenreich im gegenwärtigen Moment das Bild eines wüsten Chaos, ein Durcheinander widerspruchsvollster Erscheinungen dar, in dem die bürgerliche Presse, zumal die des deutschen Liberalismus mit gewohnter Kopflosigkeit herumirrt, um bei jeder Depeschennachricht über die „Bemühungen“ ihres geliebten Witte[3] hoffnungsvoll zu jauchzen und gleich darauf durch eine Nachricht von neuen Judenmetzeleien tief betrübt wieder zusammenzuklappen. In Wirklichkeit ist das äußere Chaos der Zustände in Rußland nur der adäquate Ausdruck des eigentümlichen inneren Verhältnisses sozialer und politischer Kräfte, das durch die zwei jüngsten Wochen geschaffen ist.

Der Eisenbahnerstreik[4], der das Signal eines allgemeinen Ausstandes in allen Städten des Riesenreichs geworden ist, hat den letzten Versuch des Absolutismus, sich hinter dem schwachen Gebein eines „Duma“-Konstitutionalismus zu retten, mit einem Schlage zertrümmert. Die zaristische Regierung war durch den gewaltigen einmütigen Ansturm der Arbeiterschaft, die mit ihrem Generalstreik den ganzen Mechanismus des Staates und das ganze öffentliche Leben zum Stillstand gebracht hat, gezwungen, mit neuen weitgehenden Zusagen wirklicher parlamentarischer Freiheiten herauszurücken. Damit hat aber der Absolutismus tatsächlich bereits abgedankt. Er hat mit seinem letzten Verfassungsmanifest[5], wenngleich es ein bloßes Stück Papier geblieben ist, seinen Bankrott als Regierungssystem kundgetan. Dieses Stück Papier

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. Der Artikel befindet sich als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] MEW, Bd. 4, S. 474. Hervorhebungen durch Rosa Luxemburg.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[4] Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution [sowie die folgenden Artikel]. In: GW, Bd. 6, S. 567 bis 589.

[5] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.