Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 655

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ist keine Verfassungsurkunde, aber es ist die Abdankungsurkunde des absoluten Regimes.

Der Absolutismus hat abgedankt. Er existierte in Wirklichkeit nicht mehr. Aber diejenige politische Form, die das neue Rußland annehmen wird und muß, ist noch nicht geschaffen. Und zwar nicht deshalb, weil Herr Witte mit Herrn Goremykin oder mit einem anderen Biedermanne von der Sorte nicht ins Klare kommen kann, oder weil „man“ in Peterhof „den Kopf“ verloren habe, wie die Mosse-Presse[1] verzweifelt stöhnt. Sondern deshalb, weil die Machtverhältnisse der Klassen und Parteien, die sich um die kleinen Schelme der Hofkamarilla und ihr munteres Intrigenspiel den Teufel kümmern, selbst in ständiger und rascher Verschiebung begriffen sind. Das neue Rußland als sozialer und politischer Bau, auf den die politische Verfassung schließlich als fertiges Dach aufgestülpt werden soll, ist gegenwärtig im Werden begriffen. Und auch diesem Prozeß der inneren Scheidung und Klärung hat der jüngste Eisenbahnerstreik mit seinem Gefolge von Generalstreiks einen mächtigen neuen Anstoß gegeben.

Die mäßig liberale, monarchistisch-konstitutionelle Semstwo-Partei, die für jeden Kuhhandel mit dem Absolutismus zu haben war und die sich in der letzten Periode der verhältnismäßig äußeren Ruhe, in der Pause der Straßenrevolution in den Vordergrund gedrängt hatte, ist jetzt plötzlich wieder ganz auf den hinteren Plan geschoben worden. Die „staatsmännische Klugheit“ und die „Mäßigkeit“ des Liberalismus schweigen, erschrocken durch das machtvolle Auftreten der „Straße“.

Die Zwischenschicht der demokratischen, radikalen bürgerlichen Intelligenz ist durch denselben Ansturm der Arbeiterschaft wieder für eine Zeitlang mitgerissen worden. Die Intelligenz unterstützt jetzt energisch die Generalstreikaktion des Proletariats und seine radikalen Losungen.

So ist durch die jüngsten Kämpfe die ganze Physiognomie des Kampflagers insofern verändert, als nunmehr die Losung des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts von allen Oppositionsparteien mit Entschlossenheit vertreten wird.

Die Arbeiterschaft ihrerseits wurde aber gleichfalls durch ihre eigene Bewegung der letzten Wochen mit einem gewaltigen Ruck weitergeschoben. Die Aktion, die Forderungen, die Haltung des Proletariats werden durch die innere Logik des Kampfes immer entschlossener und radikaler. Auf den ersten Plan der proletarischen Aktion ist nunmehr die Losung der Republik getreten. Während in der früheren Periode, vom Januar bis Oktober, die Einberufung der Konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen Wahlrechts das Stichwort der Massenbewegung bildete, ist es jetzt die republikanische Staatsform. Freilich stand die Republik im Programm der sozialdemokratischen Parteien von vornherein und wurde pflichtgetreu in den Schriften

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[1] Der Zeitungsverleger Rudolf Mosse gab seit 1871 das „Berliner Tageblatt“ heraus, das der Freisinnigen Vereinigung politisch und personell nahestand, sowie ab 1891 die Berliner „Volks-Zeitung“, die mit dieser Partei in innenpolitischen Fragen übereinstimmte.