Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 501

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1905

Das russische Jahr

[1]

Neues Jahr – und neues Leben! Manch Einzelner mag an der Schwelle des beginnenden Jahres, sein bisheriges Leben überlegend, den Vorsatz gefaßt haben, ein anderer zu werden. Den Klassen aber, die Deutschland und die Welt beherrschen, bleibt zu solcher Überlegung und solchem Vorsatze aber keine Zeit. Nichts kann darum den Vertretern einer aufsteigenden Klasse und eines neuen sozialen Gedankens ferner liegen, als an einem Neujahrstage seine gute Zeit mit Moralpredigten an die bürgerliche Gesellschaft zu vertrödeln. Denn sie wird auch im neuen Jahre bleiben, was sie im alten gewesen ist, ihrer geistigen und sittlichen Verwahrlosung setzt die Zeit keine Schranken. Und wenn darum der gerechte Geschichtsschreiber dieses verflossenen Jahres wird sagen müssen, es sei für das offizielle Deutschland ein Jahr äußerster Schmach gewesen, so wird er daran doch nicht die Hoffnung knüpfen dürfen, daß etwa das kommende diese Schmach auslöschen könnte.

Das russische Jahr hat Abschied genommen, aber der russische Kurs noch nicht. Die hervorragenden Momente, die diesem Jahre den Stempel eines Russenjahres aufgedrückt haben, mögen sich im kommenden vielleicht weniger vordringlich äußern – das System aber wird bleiben, solange Rußland bleibt, was es ist.

Und so sind der Russisch-Japanische Krieg[2] und die revolutionäre Bewegung in Rußland für Deutschland recht eigentlich Ereignisse seiner inneren Politik. Es ist das große Verdienst dieses Jahres, daß es nicht nur die Anklagebank zum Sockel einer symbolischen Gruppe gemacht hat, die das Proletariat aller Länder in seiner Verbrüderung zeigt, sondern daß es auch das natürliche Fundament bloßlegte, auf dem diese Verbrüderung fest begründet ruht.[3] Seit jener Zeit, da das revolutionäre Bürgertum den Griechen zujubelte, und später, da der junge revolutionäre Zeitungsschreiber Karl Marx in atemloser Spannung polnische und ungarische Freiheitskämpfe als be-

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[1] Der Artikel erschien anonym, Rosa Luxemburgs Autorschaft ergibt sich aus der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Nr. 308).

[2] Im Russisch-Japanischen Krieg, den Japan im Januar 1904 begonnen hatte und der im September 1905 mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete, ging es um Einflußsphären und Vorherrschaft im Fernen Osten. Die Niederlage schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

[3] Erinnert wird hier an den Internationalen Sozialistenkongreß, der in Amsterdam vom 14. bis 20. August 1904 getagt und u. a. dem kämpfenden Proletariat Rußlands seine Sympathie ausgesprochen hatte.