Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 502

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deutsam für die Zukunft ganz Europas registrierte,[1] hat sich die Bedeutung, die große weltgeschichtlich-internationale Zusammenhänge für die Zukunft jeder einzelnen Nation besitzen, nicht wieder so deutlich in das Bewußtsein aller politisch Denkenden eingeprägt. „Auf Polens Flur erschlägt man Frankreichs Kinder, in Warschaus Angeln beißt die Pforte von Paris!“ hatte damals ein deutscher Dichter der Welt zugerufen.[2] In dem gleichen Sinne ist es wahr, daß sich auf den mandschurischen Feldern und in den Straßen Petersburgs nicht bloß russische und japanische, sondern Weltschicksale, zumal deutsche Schicksale entscheiden.

Wenn der rückschauende Betrachter seinen Blick auf engste nationale Verhältnisse richtet, so zieht ein bunt zusammen gewürfeltes Spiel bedenklichster Gestalten an ihm vorüber: Der blutige Jammer Südwestafrikas,[3] Reichsfinanznot und vergebliche Anläufe zur Besserung, wilder Herrenhaustumult wider das Reichstagswahlrecht,[4] Mirbach und schmutzige Korruption in hohen Kreisen.[5] Und als Gegenspiel: in Gesetzgebung und Verwaltung Willkür und Gewalt gegen Polen und Proletarier, eine Klassenjustiz, die zwar blind ist für die Verfehlungen hoher Herren, aber argusäugig nach den kleinsten Sünden der Kleinen späht, Soldaten, die auf Fliehende geschossen, belohnt, andere aber, die Leben und Ehre von Frauen vor den viehischen Angriffen betrunkener Vorgesetzter männlich schützten, für endlose Jahre nach dem Zuchthaus schickt.

Aber aus der unerträglichen Schwüle des engen Hauses schweift das Auge in die Welt hinaus, in deren Osten die Wetterzeichen zucken. Eine Grenze hat Tyrannenmacht! Wer in hoffnungslosen Stunden an der Wahrheit dieses Verheißungswortes

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[1] Siehe Karl Marx, Friedrich Engels: [Reden auf der Gedenkfeier in Brüssel am 22. Februar 1848 zum 2. Jahrestag des Krakauer Aufstandes von 1846]. In: MEW, Bd. 4, S. 519 ff. – Friedrich Engels hat sich dazu öfter geäußert. Siehe ders.: Die Polendebatte in Frankfurt. In: ebenda, Bd. 5, S. 519 ff.; Der magyarische Kampf. In: ebenda, Bd. 6, S. 165 ff.; Preußischer Steckbrief gegen Kossuth. In: ebenda, S. 197 f.; Der demokratische Panslawismus. In: ebenda, S. 270 ff; Die „Kölnische Zeitung“ über den magyarischen Kampf. In: ebenda, S. 303 ff; Ungarn. In: ebenda, S. 507 ff.

[2] Aus dem Gedicht „Warschau“ von Franz Grillparzer mit Hervorhebungen von Rosa Luxemburg. Siehe Franz Grillparzer: Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1960, S. 200 f.

[3] Gemeint ist der brutale Feldzug deutscher Kolonialtruppen gegen die Hereros in Südwestafrika, die sich im Januar 1904 gegen die grausame Unterdrückung und drakonische Kolonialpolitik erhoben und denen sich im Oktober 1904 die Hottentotten angeschlossen hatten.

[4] Gemeint ist die Debatte im preußischen Herrenhaus am 11. und 13. Mai 1904 zu einer Denkschrift der Konservativen Graf Mirbach und Freiherr Otto Karl Gottlieb von Manteuffel, in der die Änderung des Reichstagswahlrechts und Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie gefordert wurden. Die Ansinnen wurden vom Reichskanzler Bernhard von Bülow abgelehnt.

[5] In einem am 1. Juli 1904 abgeschlossenen Prozeß gegen Direktoren einer Berliner Hypothekenbank wegen Untreue wurde festgestellt, daß der Oberhofmeister bei der Kaiserin, Freiherr von Mirbach, einen Kredit von 350000 M für Kirchenbauten abgezeichnet hatte, aber nur 25000 M in Anspruch genommen hat. Auf diese Weise unterstützte er die unlauteren Geschäftsgebaren der Bank. Zudem forderte er in einem Rundschreiben an untergeordnete Verwaltungsbehörden zu Sammlungen für Kirchenbauten unter den Beamten auf und versprach für Geldzeichnungen Orden und Titel. Am 1. September 1904 wurde v. Mirbach von der Verwaltung der Schatulle der Kaiserin enthoben.