Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 503

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zweifelte, richtet sich wieder auf. Und jene Toren, die geglaubt hatten, eine mächtig aufstrebende Entwicklungsperiode der Menschheit mit der plumpen Faust ihrer Gewalt niederhalten zu können, erkennen mit Erstaunen und Grausen in den Schicksalen der zaristischen Gewaltherrschaft ihr eigenes Zerrbild im Spiegel wieder. Während der preußische Kriegsminister noch den gedankenlosen Mut besitzt, eine neue Militärvorlage im Deutschen Reichstage[1] mit der „rage du nombre“, dem Wahnsinn der großen Zahlen, zu rechtfertigen, zeigt der größte Militärstaat der Welt, dank seiner inneren Fäulnis, vollendete militärische Unfähigkeit. Und während derselbe Kriegsminister den knechtischen Gehorsam der Gedanken als das leitende Prinzip der staatlichen Selbstverteidigung zu proklamieren wagt, erlebt dieses selbe Prinzip in den Gewässern des Gelben Meeres und auf den Schlachtfeldern Ostasiens empfindlichste Niederlagen.

Was sich drüben im Osten unmittelbar vorbereitet, ist gewiß kein Sieg des Sozialismus, nicht einmal ein tatsächlicher voller Sieg der Demokratie. Aber auf dem Felde, auf dem wir unsere Schlachten zu schlagen gewohnt sind, auf dem Felde der Gedanken, sind die großen Ereignisse, die sich in diesem Jahre auf dem Welttheater abgespielt haben, unsere Bundesgenossen geworden. Die Tatsachen haben bewiesen, daß die Logik mit uns ist. Wir, die wir uns „revolutionär“ nennen, haben das Wort niemals in jenem engen Sinne aufgefaßt, den man als seinen Heugabelsinn zu bezeichnen pflegt. Nicht wir haben zur Gewalt aufgereizt, vielmehr haben wir den herrschenden Klassen allezeit gepredigt, daß das übliche erste und letzte Mittel ihrer Politik, die brutale Gewalt, großen geistigen Bewegungen gegenüber ohnmächtig ist. Der physische Kampf, der die Menschen Brust an Brust gegenüberstellt und alle Abgründe ihrer Tierheit aufdeckt, ist uns niemals das ideale Mittel zur Entscheidung großer Interessenkonflikte gewesen. In allen Revolutionskämpfen seit der Befreiung Frankreichs, für die das Proletariat den geringsten Teil der Verantwortung trägt, ist nicht ein Zehntel des Menschenblutes vergossen worden, das jetzt auf den Altären zaristischen Selbstherrschertums und kapitalistischen Kaufmannsinteresses raucht. Ist der Kampf um die Mandschurei wichtiger als der Kampf der Völker um ihre Freiheit?

Aber der wütende Krieg, der in Asien zwischen zwei Nationen geführt wird, hat noch ein anderes gelehrt: Die Waffen, die die Bedrücker zweier Völker gegeneinander richten, richten sich im Grunde gegen sie selbst. In der politischen und sozialen Revolution entsteht den beiden ringenden Gegnern ein dritter, der sie beide überwinden

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[1] Am 17. März 1904 war im Deutschen Reichstag die Bewilligung neuer Mittel für den Unterdrückungsfeldzug in Südwestafrika gefordert worden. Bei der Vorlage ging es um eine weitere Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um rund 10000 Mann und die Aufstellung neuer Truppenformationen, deren einmalige Kosten sich auf 100 Mill. M, die fortdauernden jährlichen auf 16 Mill. M beliefen. Am 3. Dezember 1904 rechtfertigte der preußische Kriegsminister Karl von Einem mit „rage du nombre“ die Erhöhung der Präsenzstärke des Heeres. Die Militärvorlage wurde gegen die Stimmen der Sozialdemokraten Ende März 1905 beschlossen und trat ab 1. April 1905 in Kraft.