Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 504

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wird. Die herrschenden Klassen der Erde bieten das Äußerste auf, um für den Fall eines Krieges bis auf die Zähne gerüstet einander gegenüberzutreten – im Deutschen Reichstag aber hat der Kanzler wenigstens der einen Wahrheit die Ehre geben müssen, daß der wahre Sieger jedes künftigen Krieges die Sozialdemokratie sein würde.[1]

In die Sackgasse solcher Widersprüche hat sich die bürgerliche Gesellschaft unrettbar verrannt. Während ihr Verstand ihr sagen müßte, daß wider die internationale Arbeiterbewegung mit Mitteln der Gewalt nichts auszurichten sei, zwingt sie der rohe überlegungslose Instinkt der Selbsterhaltung immer wieder, der in ruhiger Siegeszuversicht andrängenden Masse die Faust zu zeigen. Während sie sich weiter sagt, daß jeder gewaltsam ausgetragene Konflikt zwischen zwei kapitalistischen Mächten wohl einer den Sieg nach außen, beiden aber die Niederlage nach innen bringen müsse, sieht sich doch jede Macht genötigt, eine Politik zu treiben, die die Möglichkeit eines solchen Konflikts notwendig in sich einschließt. So kennen sie das Gift, an dem sie sterben werden, und können doch nicht davon lassen.

Das Jahr 1904 hat keine letzten großen Entscheidungen gebracht. Es hat fast ein ganzes politisches Inventar seinem Nachfolger als Erbe hinterlassen. Weder ist Deutschland im Innern zu irgendwelchen entscheidenden Abschlüssen gelangt – alle schwebenden Fragen der Militär-, Handels-, Finanz- und Kolonialpolitik hat es vertagen müssen –, noch ist auf dem Schauplatze des Krieges und der russischen Verfassungsbewegung[2] der letzte Schlag gefallen. So erscheint seine Ausbeute gering für den, der einen verflossenen Zeitabschnitt nur nach glatten vollendeten Tatsachen wertet. Uns anderen aber, die wir gewohnt sind, aus dem Gang der zeitgenössischen Geschichte zu lernen, hat es reichen geistigen Gewinn gebracht; es ist uns kein Weihnachtsmann mit vollen Säcken, aber ein guter Lehrmeister gewesen. Es hat keinen Wunsch erfüllt, aber manche Hoffnung geweckt, manchen Mut aufgerichtet, manche Zuversicht neu belebt.

Die Spießbürgerhoffnungen und Spießbürgerängste jener, denen ein Jahr nichts anderes als ein Lebensabschnitt ihrer eigenen kleinen Menschlichkeit ist, rühren uns nicht und schrecken uns nicht. Weder utopische Illusionen noch realpolitische Bedenklichkeiten werden die Sozialdemokratie von dem Wege ablenken, den sie bisher rüstig voranschritt. Wir haben am Ende des Jahres noch die Freude erlebt, den preußischen Teil unserer Partei zu einer machtvollen Kundgebung wider die vorderrus-

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[1] Gemeint ist die Rede von Reichskanzler Bernhard von Bülow in der Reichstagsdebatte zum Entwurf eines Gesetzes zum Reichshaushaltsetat 1905 in Erwiderung einer Rede von August Bebel. (Siehe Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Mit Erlaubnis des Reichskanzlers gesammelt und herausgegeben von Johannes Penzler. II. Band 1903–1906, Berlin 1907, S. 111 f.)

[2] Am 17. November 1904 hatte in St. Petersburg eine Konferenz von Mitgliedern der Semstwos (Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten) stattgefunden, die Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung forderten. Daraufhin hatte die zaristische Regierung im Dezember 1904 eine Verordnung erlassen, in der die Erweiterung der Rechte der Semstwos versprochen wurde. Gleichzeitig kündigte sie an, alle Reform- und Verfassungsbestrebungen unterdrücken zu wollen.