Eine Riesendemonstration in Łódź
[1]Łódź, 29. Mai. (Eig. Ber.) Gestern hat hier ein Ereignis stattgefunden, das man für einen Traum halten würde, wenn wir nicht alle noch unter dem mächtigsten Eindruck dieser lebendigen Wirklichkeit wären.
Am Freitag, dem 26., brach in der großen Fabrik von Grohmann (mehr als 2000 Arbeiter) ein Streik aus. Der Streik wurde mit musterhafter Disziplin durchgeführt. Gleich am Freitag wurden von mehreren Agitatoren in der Fabrik zwei Reden gehalten in polnischer und in deutscher Sprache. Am Nachmittag desselben Tages gingen einige Arbeiter ruhig vor der Fabrik vorbei, da gab die Patrouille, die in der Nähe stand, plötzlich ohne jeden ersichtlichen Zweck Feuer, und einer der Arbeiter, Georg Grabez·yn´ski, fiel auf der Stelle tot nieder, während zwei andere schwer verwundet wurden.
Eine ungeheure Empörung bemächtigte sich der Arbeiterschaft ob dieses Meuchelmordes. Die Leiche des ermordeten Kameraden wurde sofort ins Fabrikgebäude getragen und hier von den Genossen, trotz dringendster Opposition der Polizei, Tag und Nacht bewacht – bis zum Begräbnis. Die Sozialdemokratie sagte sofort für den nächsten Tag – Sonnabend – zwei Massenversammlungen im Fabrikgebäude Grohmanns an, eine fand in der Frühe, die andere am Nachmittag statt. In jeder wurden von unseren Genossen polnische und deutsche Ansprachen über die politische Bedeutung des Vorfalles gehalten. Zugleich wurde in der ganzen Stadt eine fieberhafte Agitation entfaltet mit der Losung: Das ganze proletarische Łódź soll am Begräbnis des ermordeten Genossen teilnehmen! Am gleichen Tage wurde zu diesem Zwecke eine Proklamation von der Sozialdemokratie hergestellt und verbreitet, auch wurden mehrere Versammlungen in verschiedenen Stadtteilen unter Teilnahme von 2000 bis 3000 Personen abgehalten.
Das Begräbnis sollte am Sonntag, also gestern, um 3 Uhr nachmittags stattfinden. Noch am Sonntag früh hielten wir außerhalb der Stadt eine Versammlung ab, wo politische Reden gehalten wurden. Und das Proletariat ist dem Rufe gefolgt!
Gegen 3 Uhr war bereits in der und um die Fabrik Grohmann eine Menge von über 40000 Arbeitern versammelt. Kein einziger Polizist, kein einziges Militär ließ sich erblicken. Der Trauerakt wurde mit dem Absingen der „Roten Fahne“[2] eröffnet.
[1] Dieser Bericht ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Leo Jogiches vom 25. oder 26. Juni 1905 sorgte sie für die Veröffentlichung von Informationen über die Ereignisse in Łódź, siehe GB, Bd. 2, S. 141. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 341 ausgewiesen.
[2] Siehe S. 540, Fußnote 3.