Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 544

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Darauf trat ein Redner der Sozialdemokratie auf die vorbereitete Tribüne und hielt unter atemloser Stille eine längere Ansprache über die gegenwärtige Revolution im Zarenreich, die Interessen des Proletariats in Polen und Rußland und über die Ziele der Sozialdemokratie. Stürmischer Beifall und Zurufe schlossen sich der Rede an. Der Enthusiasmus war so groß, daß der Redner von der Menge auf den Händen in die Höhe gehoben und auf ihn unendliche Hochrufe erhoben wurden. Darauf sprach eine Genossin von der Sozialdemokratie deutsch, und die deutschen Arbeiter nahmen die Rede mit der größten Begeisterung auf. Später sprachen noch Redner von der PPS, vom Jüdischen Bund[1] und wieder von der Sozialdemokratie. Die Stimmung, die in der ungeheueren Masse herrschte, das Gefühl der Freude bei der gänzlich ungestörten Monsterversammlung, die gänzliche Abwesenheit der Polizei und des Militärs, die sich einfach verkrochen haben, das alles läßt sich nicht beschreiben. Es war etwas in Łódź und wohl im ganzen Zarenreich noch nicht Dagewesenes!

Und nun ordneten wir uns in Reihen, und der ganze gewaltige Zug mit dem Leichenwagen setzte sich in Bewegung. An der Spitze marschierte der Fahnenträger der Sozialdemokratie Polens und Litauens mit einer großen schwarzen Fahne und weißen Lettern: „Ehre den Opfern des Zarendespotismus!“ „Es lebe die Sozialdemokratie!“ Hinter ihm gingen die sozialdemokratischen Frauen mit einem großen Kranz und roten Schleifen: „Den Opfern der Schergen von den Genossen der S.-D.[Sozialdemokratie]“ Hinter dem Kranz wurde die Parteifahne der PPS getragen mit der Aufschrift: „Es lebe die Freiheit! Es lebe die PPS.“ Weiter schritt der Fahnenträger des Jüdischen Bundes. Darauf folgte eine Musikkapelle und dann der vierspännige Leichenwagen. Hinter dem Wagen schritt wieder der Fahnenträger der Sozialdemokratie mit roter Fahne und den Aufschriften: „Fort mit dem Kriege! Nieder mit dem Absolutismus!“ Und weiter die unzählige Menge, die bald mindestens 50000 Arbeiter umfaßte. Der Leichenzug ging über die Straßen: Pusta, Piotrkowska, Czerwona, Wólczan´ska, bis Eckenstraße, endlich kamen wir ins Feld hinaus. In jeder Straße stießen neue Haufen Arbeiter zu uns. Unterwegs wurden ununterbrochen abwechselnd die Strophen der „Roten Fahne“ gesungen und Trauermärsche von der Kapelle gespielt. Von der Piotrkowskastraße ab wurde der Sarg bereits vom Katafalk abgenommen und von den Arbeitern auf den Schultern getragen. Und auf dem ganzen Wege nirgends ein Polizist, nirgends ein Soldat zu sehen!

Plötzlich werden Schüsse hörbar. Für einen Augenblick entsteht Panik. Doch stellt es sich heraus, daß bloß die Arbeiter aus der PPS nach ihrer Gepflogenheit Revol-

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[1] Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland wurde auf einer vom 7. bis 9. Oktober 1897 in Wilna (Vilnius) tagenden Konferenz von 13 Vertretern jüdischer proletarischer Organisationen als jüdische Arbeiterpartei mit sozialistischer Zielrichtung gegründet. 1898 nahmen Vertreter des Bundes an der Gründung der SDAPR teil. Das Programm der Partei basierte auf marxistischen Positionen und orientierte sich an der II. Internationale. Der Bund trat für eine national-kulturelle Autonomie der jüdischen Bevölkerung ein, was auf Kritik bzw. Ablehnung bei führenden Vertretern der SDKPiL und der Bolschewiki stieß. Er wirkte gegen zionistische Tendenzen in der jüdischen Arbeiterbewegung.