Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 650

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Die Revolution in Rußland

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Ein geschäftiges Hin- und Hertappen der Kamarilla, ein schwindelhaftes Intrigenspiel Witte–Trepow[2] hinter den Kulissen, Personalveränderungen, die in der herrschenden Bande selbst vorgenommen werden, die Organisation gar neuer zaristischer Ministerien zur Vervollständigung der bisherigen Garnitur dieser Häuser der gegenseitigen Toleranz im Diebstahl und Volksplünderung, das alles nach dem gewaltigen Volkssturm der letzten Wochen – man weiß beinahe nicht, was größer ist: die Stupidität oder die Schurkerei der würdigen Vertreter des letzten absoluten Gottesgnadentums in Europa. Eine halbe Amnestie, ein „erweitertes“ Wahlrecht unter Ausschluß des ländlichen Proletariats, des Kleinbürgertums und der Teilnehmer der letzten revolutionären Streiks, an Stelle Trepows, des russischen Cavaignacs, irgend ein anderes Werkzeug der Kamarilla, einer von der degenerierten Zarenbrut, und gleichzeitig Judenmetzeleien und Massenmorde ohne Ende, mit solchen Mitteln glaubt der zerschossene Absolutismus sich aus der Patsche herauszuhelfen! So geht denn auch mit ehernem Schritt die Revolution ihren Weg weiter. Das Proletariat rüstet fieberhaft zu neuen Kämpfen. Es dürften kaum Wochen vergehen, bis ein abermaliger Zusammenstoß auf der ganzen Linie die Entscheidung um ein gewaltiges Stück näher rückt, vielleicht sogar herbeiführt.

Kleine Reparaturen

Petersburg, 9. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Durch kaiserlichen Erlaß ist ein selbständiges Ministerium für Handel und Industrie geschaffen worden. Der Verweser der Hauptverwaltung für Landwirtschaft, Schwanebach, ist unter Genehmigung seines Abschiedsgesuches zum Mitgliede des Reichsrates ernannt worden. Reichskontrolleur und Mitglied des Reichsrates Lobko ist unter Verabschiedung als Reichskontrolleur zum Generaladjutanten ernannt worden. Fürst Chilkow ist der Alexander-Newsky-Orden mit Brillanten verliehen worden. An den Großfürsten Wladimir, den bisherigen Finanzminister Kokowzow, an Fürsten Chilkow und an Lobko hat der Kaiser Handschreiben gerichtet.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt. – Dmitri Trepow war seit 1896 Polizeichef von Moskau und seit April 1905 Polizeiminister.