Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 851

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Die Revolution in Rußland

[1]

Eine internationale Kundgebung am 22. Januar

Das Internationale Sozialistische Büro teilt uns den folgenden Aufruf mit:

An die Arbeiter aller Länder!

Am 22. Januar wird es ein Jahr sein, seit Nikolaus II. und seine Ratgeber die Arbeiter Petersburgs niedermetzeln ließen, welche unbewaffnet auszogen, um Beendigung eines niederträchtigen Krieges, um Besserung ihrer unerträglichen Lage, um Bewilligung elementarster Volksrechte zu bitten, die das Proletariat aller übrigen Länder bereits besitzt.

Dieser Tag des 22. Januar ist ein entscheidendes Datum in der russischen Revolution.

Dieser Tag hat dem Volke die Augen weit geöffnet. Er hat alle Illusionen derer vernichtet, die noch an das Wohlwollen des Zaren glaubten. Er hat schließlich zum äußersten Kampfe das Signal gegeben, zu einem Todeskampfe zwischen der Arbeiterklasse und den letzten Stützen eines Regimes, das vom Gewissen aller ehrlichen Menschen schon längst verdammt worden ist.

Vergebens versucht der Zarismus sein Geschick abzuwenden, indem er neue Verbrechen anstiftet: er mobilisiert die Kosaken, er organisiert und bewaffnet die schwarzen Banden[2], er hetzt elende Finsterlinge gegen Juden, Armenier, gegen die Intelligenz, gegen alle diejenigen auf, deren Ansicht, Nationalität oder Rasse sie als Feinde der Bürokratie und des Absolutismus kennzeichnet.

Dieser niederträchtigen Politik gegenüber widersetzt sich das revolutionäre Proletariat seit einem Jahre mit der wunderbarsten Anstrengung, die je von einem Volke in seinem Befreiungskampfe angewandt worden ist.

Das ganze Reich ist von einer fortdauernden Revolution ergriffen. Ausstände folgen auf Ausstände. Keine Monatsfrist verstreicht, ohne daß neue Anstrengungen dem Zaren Zugeständnisse entreißen, die seinen endgültigen Sturz bereiten und unvermeidlich machen. Während der dem 22. Januar folgenden Tage findet ein Ausstand von 600000 Arbeitern in Polen statt,[3] welcher bald das ganze Reich erfaßt, mit dem Losungsruf: „Tod oder Freiheit!“ Kalajew richtet den Großfürsten Sergius hin. Die Arbeiterklasse verwirft die zaudernden Versuche der Schidlowski-Kommission

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[3] Gemeint ist der 28. Januar 1905, Rosa Luxemburg nennt in „In revolutionärer Stunde: Was weiter?“ diesen Tag als Beginn des allgemeinen Streiks den 28. Januar 1905, zu dessen Höhepunkt der Generalstreik der polnischen Arbeiter vom 1. bis 4. Mai 1905 wurde, siehe GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 554.