Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 852

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und die des Finanzministers Kokowzow.[1] Bauernunruhen brechen aus,[2] und Landleute bemächtigen sich der herrschaftlichen Güter, deren Besitzer sich in die Städte flüchten. Die Matrosen des „Potjomkin“[3] schließen sich dem Volkskampfe an, und auf den Schiffen des Zaren hissen sie die Fahne der „Internationale“. Soldaten, die täglich zahlreicher werden, weigern sich, ihre Brüder niederzuschießen. Das hohe Kommando gibt schändlicherweise die mandschurische Armee dem gräßlichsten Elend preis und wagt es nicht, sie zurückzurufen. Zum ersten Mal treten politische Parteien in die Öffentlichkeit. Man macht ihnen Versprechungen, man verspricht ihnen Konzessionen. Der Zar verkündet seinen „unerschütterlichen Willen“, eine Nationalversammlung einzuberufen, aber eine beratende Versammlung, nur von Adeligen und Reichen auserwählt, mit Ausschluß der ganzen Arbeiterklasse sowie der gebildeten Intelligenz.[4] Er läßt die unvergeßlichen Helden der Revolution, so Wassiliew, Gerschkowitsch, Kasprzak, Krause, Chmelbitzky, Nikoforow und andere henken. Er läßt Petrow, Titow, Adamenko, Tchrony, Motcheslower und ihre Genossen der empörten Flotte erschießen.[5] Aber das Blut der Märtyrer ist segensreich. Die fortwährend zunehmende sozialistische Bewegung vereinigt in einem gemeinschaftlichen Kraftaufwand oder durch hinreißende Gewalt das Proletariat der Städte, das Volk vom Lande, die liberalen Elemente des Bürgerstandes. In allen großen Städten bricht der allgemeine Ausstand los. Die Verbindungswege werden unterbrochen. Rußland wird von der übrigen Welt abgeschnitten. Die Regierung wird durch den Ausstand der Eisenbahner[6] ins Innere ihres Daseins getroffen und nach einigen Tagen unnützen Widerstandes hat Nikolaus II. mit dem Manifest vom 30. Oktober[7] feierlich seine Niederlage anerkannt, indem er neue Konzessionen verkündete.

Die Geschichte dieses Jahres 1905 hat der Welt den Wert des russischen Sozialismus klargelegt. Sie hat die auf dem internationalen Kongreß zu Paris 1889 geäußerte Prophezeiung bewahrheitet: „Die revolutionäre Bewegung wird in Rußland siegen als eine Arbeiterbewegung oder sie wird überhaupt nicht siegen.“[8] Jetzt aber, dank

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[1] Die Schidlowski-Kommission wurde von der zaristischen Regierung am 29. Januar 1905 gegen die sich ausbreitende Streikbewegung eingesetzt. Sie sollte nach offizieller Verlautbarung die Ursachen der Unzufriedenheit beseitigen. Ohne die Arbeit überhaupt aufgenommen zu haben, wurde sie am 20. Februar 1905 aufgelöst. – Wladimir Kokowzow war vom 5. Februar bis 24. Oktober 1905 Finanzminister im Kabinett von Sergej Witte. Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[2] Das nie dagewesene Ausmaß der Bauernbewegung 1905 zeigte sich im Oktober in 219, im November in 796 und im Dezember in 575 Bauernerhebungen.

[3] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte.

[4] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.

[5] Siehe z. B. Rosa Luxemburg: Ein Opfer des weißen Terrors! In: GW, Bd. 6, S. 553 und dies.: Die Revolution in Rußland. In: ebenda, S. 753 ff.

[6] Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.

[7] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[8] Es war Georgi Plechanow, der in seiner Diskussionsrede erklärt hatte: „Zum Schluß wiederhole und betone ich: Die revolutionäre Bewegung wird in Rußland triumphieren als Arbeiterbewegung, oder sie wird nie triumphieren.“ Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses zu Paris. Abgehalten vom 14. bis 20. Juli 1889. Deutsche Übersetzung. Mit einem Vorwort von Wilhelm Liebknecht, Nürnberg 1890, S. 63.