Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 865

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Neues Jahr, neue Kämpfe

[1]

Alles fließt, nur der Wechsel hat Bestand. Was ist ein Jahr, wenn es nicht mit den Augen des ehrsamen Spießbürgers als Lebensabschnitt des eigenen kleinen Ichs betrachtet wird, sondern als Zeitenmaß im Entwicklungsgange der Menschheit oder auch nur eines einzelnen Volkes? Eine flüchtige Welle in der wechselnden Flut der rastlos vorüber fliehenden Erscheinungen – und doch, wie viele bedeutsame Ansätze zu sozialen Neubildungen, wie viele neue Ausblicke auf den geschichtlichen Werdeprozeß hat uns das schwindende Jahr gebracht.

Das Jahr 1904 hatte keine großen Entscheidungen hinterlassen; unvollendet und unbestimmt war das politische Erbe, das es seinem Nachfolger übergab. Im Fernen Osten, auf den mandschurischen Schlachtfeldern, tobte noch unentschieden der Kampf.[2] War es auch der jungen Militärmacht Japans gelungen, nach und nach die russischen Heere immer mehr gegen Norden zurückzudrängen, so erschien doch zu Beginn des Jahres 1905 der Ausgang des Ringens noch als ungewiss. Das vergangene Jahr hat die Entscheidung gebracht. Schon in den ersten Tagen des neuen Jahres, am 2. Januar, kapitulierte Port Arthur, und am 13. Januar zog der japanische General Nogi als Sieger in Port Arthur ein. Im März fiel nach gewaltigen Kämpfen die alte mandschurische Kaiserstadt Mukden in die Hände der japanischen Truppen, und am 28. Mai vernichtete die japanische Flotte die unter der Führung des russischen Admirals Roshestwenski ausgesandten baltischen Ersatzgeschwader in der Koreastraße. Die Niederlage des russischen Kolosses war besiegelt. Ende August sah der Zarenstaat sich zum Friedensschluß gezwungen, der nicht nur deshalb geschichtliche Bedeutung beansprucht, weil er Rußlands politische Machtstellung in Ostasien bricht, sondern mehr noch, weil er den Anbruch einer neuen Phase im Kampf um den Stillen Ozean bedeutet, der im Wirtschaftsleben der großen Kulturvölker zu derselben Rolle berufen erscheint, die einst im Altertum und im Mittelalter das Mittelmeer, dann nach der Entdeckung Amerikas bis auf den heutigen Tag der Atlantische Ozean gespielt hat.

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln, die Rosa Luxemburg als Chefredakteurin des „Vorwärts“ vor ihrer Abreise nach Warschau zu Papier gebracht hat. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 385 ausgewiesen.

[2] Gemeint ist der Russisch-Japanische Krieg. – Im Russisch-Japanischen Krieg, den Japan im Januar 1904 begonnen hatte und der im September 1905 mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete, ging es um Einflußsphären und Vorherrschaft im Fernen Osten. Die Niederlage schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.