Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 866

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Doch weit bedeutsamer noch für die ferneren Geschicke der europäischen Völker und besonders des Proletariats erscheint der Ausbruch der Revolution in Rußland. Mit elementarer Gewalt, wie Flugfeuer im Sturm, hat sie nacheinander die verschiedenen Gegenden ergriffen, vom Newastrand bis zum Kaukasus, von Polen bis zum Ural. Als am Blutsonntag des 22. Januar die streikenden Arbeiter Petersburgs unter Führung des Popen Gapon nach dem Winterpalais wallfahrteten,[1] um die Hilfe des Zaren in ihrer Not in Anspruch zu nehmen, erfüllte noch tiefes Vertrauen, stille Ehrfurcht vor dem „milden Friedenszaren“ die hoffenden Proletarierherzen. Doch die scharfen Salven der Zarenschergen in die bittende Menge öffneten auch der großen Masse derer die Augen, die noch immer auf eine Einlenkung des Zarismus in die Bahnen der politischen Reformen gehofft hatten. Der bestialische Frevel der Zarenkreaturen riß das Volk aus seiner Erstarrung. Mit wilder Gewalt packte es die Herzen, und vor dem Ausbruch der Volksempörung barsten krachend die Schollen unter dem russischen Eispalast. Zunächst noch schien es, als würde die durch das Verbrechen des Blutsonntages aufgepeitschte Volksleidenschaft sich an der brutalen Gewalt des Zarismus brechen, als werde auch das Massaker des 22. Januar nicht mehr sein, als eine erschütternde Episode in der mit Blut geschriebenen Geschichte der Romanows. Frohlockend verkündete die russische und die ihr geistesverwandte reaktionäre deutsche Presse, daß die eindringlichen Lehren der scharfen Salven dem „aufgehetzten Volk“ für immer die Lust ausgetrieben hätten, nach Freiheit und Recht zu dürsten. Und selbst jene, die das Volksleben des „heiligen“ Rußlands, die unter der Asche verborgenen revolutionären Gluten besser kannten, rechneten nicht mit offenen großen Straßen- und Barrikadenkämpfen gegen die zaristische Gewalt, sondern mit einem stetigen, bald hier, bald dort einsetzenden, erlöschenden und wieder aufflackernden jahrelangen Ringen; hieß es doch, die Zeiten der großen französischen Revolution mit ihrer heroischen Aufopferungsfähigkeit der Massen seien dahin – ein verschwundenes Moment einer überlebten Geschichtsperiode. Das Jahr 1905 hat gezeigt, wie irrig diese Theorie war. Derartige heldenmütige Kämpfe gegen eine mit den modernsten Waffen ausgerüstete Truppenmacht, wie in den letzten Tagen des scheidenden Jahres sich in Moskaus Straßen abspielten, hat die französische Revolution nie gesehen.

Schon wenige Wochen nach dem Blutsonntag stand der größte Teil der industriellen Reviere Rußlands im politischen Massenstreik. Gleich einem Feuerbrand griff er um sich, so daß Ende März bereits an 150 Städte vom Streikfieber erfaßt waren. Inzwischen erfolgte die Hinrichtung des Senators Johnsons und des Großfürsten Sergius, dann der Ausbruch der Unruhen im Kaukasus, die Bauernrevolten in Südwestrußland und in den Ostseeprovinzen, der Wiederausbruch der Unruhen in Baku, der Abfall eines Teils der Schwarzmeerflotte, die Hinrichtung Schuwalows, erneute Kämpfe im Industriegebiet Russisch-Polens, die Barrikadenkämpfe von Łódź.

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[1] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus. –

Der russisch-orthodoxe Priester Georgi Gapon entstammte einer jüdisch-ukrainischen Bauernfamilie, konvertierte früh zum Christentum und wirkte als Gefängnispfarrer. 1903 hatte er die Versammlung der Russischen Fabrikarbeiter in St. Petersburg ins Leben gerufen, die von der Geheimpolizei Ochrana unterwandert wurde. Dem Demonstrationszug der Petersburger Arbeiter am (9.) 22. Januar 1905 war er mit einer Bittschrift an Zar Nikolaus II. vorangeschritten, der die friedlich Demonstrierenden zusammenschießen ließ.