Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 867

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Ein Blutmeer brandete über die wirtschaftlich entwickelten Teile des „heiligen“ Rußlands, und endlich fühlte sich in seiner steigenden Angst der „Friedenszar“ bewogen, zur Beschwichtigung der tosenden Brandung auf ein Stück seiner Selbstherrlichkeit zu verzichten: Ein Verfassungs-Ukas vom 19. August verkündete die Einführung einer Reichsduma.[1] Doch zu spät; die schwächlichen Zugeständnisse vermochten die aufgepeitschte Volksleidenschaft nicht zu beruhigen – neue politische Streiks folgten, neue Straßenkämpfe, neue von der zaristischen Kamarilla veranstaltete Aderlässe. Dem Generalausstand der Eisenbahnbeamten[2], der über eine Woche den Eisenbahnverkehr fast ganz Rußlands stillegte, schloß sich der Generalstreik der Arbeiterschaft Petersburgs, Moskaus, Warschaus, Łódź’s, Kiews, Charkows, Samaras und anderer Städte an. Wieder suchte Nikolaus der Blutige das tobende Meer zu beruhigen, indem er sich am 30. Oktober ein neues Verfassungsmanifest[3] leistete, das den „treuen Söhnen Rußlands“ die „unerschütterliche Grundlage der bürgerlichen Freiheiten“ verhieß und den Grafen Witte zum Ministerpräsidenten berief.[4] Aber bereits am nächsten Tage erklärte die Sozialdemokratische Partei Rußlands, daß das zaristische Manifest nicht dem Kampfe des Proletariats Stillstand zu gebieten vermöge. Anstatt eine Abschwächung zu erfahren, haben die Kämpfe gegen das zaristische System eine noch weitere Ausdehnung angenommen, und den Schluß des Jahres beleuchtet das blutige Rot der Dezemberschlacht von Moskau. –

Der Zarismus hat seine Kraft verloren. Er verwest bei lebendigem Leibe. Allerdings ist zur Errichtung eines sozialistischen Staates Rußland noch nicht reif; aber ebenso wenig ist eine Fortsetzung des verrotteten absolutistischen Regimes möglich – dazu hat das Proletariat im Feuer der Revolution allzu sehr seine Macht und seine Interessen begreifen gelernt, dazu haben die Bestrebungen einer gründlichen Umgestaltung der Bodeneigentumsverhältnisse in der russischen Bauernwirtschaft allzu tief Wurzel geschlagen. Möglich ist nur noch ein liberal-demokratisches Regime mit einem starken sozialpolitischen Einschlag.

Doch nicht nur für das russische Proletariat war das Jahr 1905 ein Jahr der Kämpfe; fast in allen europäischen Kulturstaaten hat unter dem Eindruck der russischen Ereignisse die sozialdemokratische Arbeiterschaft weitere Marschstrecken zu ihrem Ziel zurückgelegt und neue Positionen genommen. In Deutschland begann das Jahr 1905 mit dem großen Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier.[5] An ihn schloß sich alsbald eine große Zahl anderer bedeutender Ausstände, bald in diesem, bald in jenem Teile des Reiches, bis zum Ausbruch des großen Streiks in der Berliner Elektrizitäts-

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[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.

[3] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[4] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[5] Gemeint ist der Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 von rund 215000 Bergarbeitern. Sie forderten die Achtstundenschicht, höhere Löhne, Garantien für die Grubensicherheit und die Beseitigung aller Schikanen wegen politischer Tätigkeit. – Ein Streik und Aussperrungen von 36000 Textil- und Färbereiarbeitern in Gera, Glauchau, Greiz, Meerane u. a. Orten im Kampf um höhere Löhne fand vom 20. Oktober bis 28. November 1905 statt. Er wurde vom Vorstand des Textilarbeiterverbandes abgebrochen, ohne daß Ergebnisse erzielt worden waren.