Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 868

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industrie.[1] In Italien eröffneten im Februar die Eisenbahnangestellten den Kampf mit einem Generalstreik.[2] Ihm folgte zwei Monate später in Frankreich die Einigung des französischen Sozialismus[3], die, indem sie die zersplitterten Kräfte der französischen sozialistischen Fraktionen zusammenfaßte, der gesamten Partei eine Position im französischen Parlament verschaffte, wie sie in den Zeiten des Ministerialismus nie besessen hat. Selbst in England gewann, wie der im September abgehaltene Trades Unions-Kongreß bewiesen hat,[4] die sozialdemokratische Lehre und die selbständige Arbeiterpolitik an Einfluß. Und in Österreich-Ungarn, dem Doppelstaat der Halbheiten, hat während der letzten Monate das sozialdemokratische Proletariat mit verstärktem Eifer den Kampf für das allgemeine gleiche Wahlrecht aufgenommen.[5] Neben diesen größeren Attacken aber zog sich durch das ganze Jahr ein unermüdlicher Kleinkampf, eine stetige Arbeit, den niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus zu wehren, zu retten und zusammenzuraffen, was an Kultur und Humanität im Dienste der Proletarierschichten zu erringen war.

Mehr als irgendeines seiner Vorgänger verdient deshalb das scheidende Jahr den Ehrennamen eines „Kampfjahres“, eines Jahres aufreibender, opferschwerer Arbeit; aber auch des Fortschritts, der Solidarität, der bewunderungswürdigsten Aufopferung. Allerdings hat es auch an Rückschlägen, an krampfhaften Anstrengungen der Gegner, den Vormarsch des Sozialismus aufzuhalten, nicht gefehlt; noch kurz vor Schluß des Jahres trat Hamburgs Plutokratie mit einem neuen Wahlentrechtungsplan hervor.[6] Aber mag auch im einzelnen manches mißglückt, manche stille Hoffnung getäuscht worden sein, so zeigt doch schon ein flüchtiger Blick auf die durchlaufene Bahn des scheidenden Jahres, daß wieder der Befreiungskampf des internationalen Proletariats um ein

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[1] Der Streik und die Massenaussperrung in der Berliner Elektroindustrie hatten vom 19. September bis 15. Oktober 1905 stattgefunden. Die staatlichen Behörden unterstützten die Elektrokonzerne AEG und Siemens &Halske durch Einsatz von Feuerwehrleuten, Eisenbahnern und Militär zu Streikbrecherdiensten. Der Kampf der etwa 40000 Arbeiter wurde abgebrochen, als der Verband der Berliner Metallindustriellen für den 14. Oktober 1905 die Aussperrung weiterer 120000 Arbeiter ankündigte.

[2] Ab Februar 1905 machten die Eisenbahnangestellten Italiens ihren Dienst nach dem zum Teil veralteten, fast unbrauchbaren Eisenbahnbetriebsreglement, um ein Verbot des Streikrechts zu verhindern. Der Verkehr stockte, und der Handel wurde lahmgelegt. Am 4. März 1905 trat Ministerpräsident Giovanni Giolotti aus gesundheitlichen Gründen zurück. Der neue Ministerpräsident Alesandro Fortis legte dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der die Eisenbahnbediensteten zu Staatsbeamten erhob und so das Streikrecht aushebelte. Am 17. April 1905 wurde gegen den Gesetzentwurf ein Eisenbahnerstreik proklamiert. An ihm beteiligte sich nur ein Teil der Eisenbahner. Am 21. April 1905 wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Die Einigung des französischen Sozialismus. In: GW, Bd. 6, S. 529 ff.

[4] Der 37. Jahreskongreß der englischen Gewerkschaften tagte vom 4. bis 8. September1905 in Staffordshire. Der Kongreß forderte die Aufrechterhaltung des Freihandels und den Achtstundentag.

[5] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.

[6] Der Senat der Hamburger Bürgerschaft hatte am 4. Mai 1905 eine Vorlage zur Änderung des Wahlgesetzes eingebracht, wonach die Wähler der Stadt Hamburg nach der Höhe des Einkommens in drei Gruppen eingeteilt werden sollten. Das bedeutete die Einführung des Dreiklassenwahlrechts. In der Begründung der Vorlage war ausdrücklich betont worden, daß damit der Zunahme sozialdemokratischer Stimmen entgegengewirkt werden sollte. Vor der entscheidenden Abstimmung Ende Januar 1906 legten am 17. Januar 1906 80000 Hamburger zu einem halbtägigen Massenstreik, entsprechend einem sozialdemokratischen Aufruf, die Arbeit nieder. Die Wahlgesetzänderung wurde am 31. Januar 1906 von der überwiegenden Mehrheit der Bürgerschaft angenommen.