Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 103

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Clausurarbeit für Herrn Prof. J. Wolf von Rosa Luxemburg. Die Lohnfondstheorie und die Theorie der industriellen Reservearmee

Man kann sagen, daß die Nationalökonomische Wissenschaft bis vor Kurzem nur zwei Theorien des Arbeitslohns aufgestellt hat: die Lohnfondstheorie u. die Theorie der industriellen Reservearmee, die erste – ein Produkt der bürgerlichen, die letzte – der sozialistischen Schule. Es soll damit freilich nicht behauptet werden, daß alle Theoretiker der Wirtschaftslehre ohne Ausnahme auf die eine oder die andere dieser Theorien geschworen haben. Es gab auch Schriftsteller, die sich der Lohnfondstheorie durchaus ge kritisch gegenüber verhielten, ohne sich deshalb zu der – zurzeit noch nicht aufgestellten – Theorie der Reservearmee zu bekennen. Andererseits ist in der allerletzten Zeit eine Theorie aufgestellt worden, welche beide genannten Theorien einer eingehenden Kritik unterzieht u. beide als verfehlt betrachtet – wir meinen die Theorie von Prof. J. Wolf, die jüngst von einigen deutschen Nationalökonomen, wie Wenckstern, adoptiert u. wiederholt worden ist. Wenn wir aber von diesem Ergebnis der allerletzten Zeit – auf das wir unten näher einzugehen haben werden – absehen, so lassen sich für die ganze lange Periode von den Anfängen der klassischen Nationalökonomie bis auf unsere Tage nur die zwei genannten Theorien des Arbeitslohns – die Lohnfondstheorie und die Marx’sche ausfindig machen.

Schon bei Ad. Smith finden wir die Lehre vom Lohnfonds klar u. ausdrücklich aufgestellt. Im Kapitel VIII des Buches I seines „Wealth of Nations“ (1776), betit. Vom Arbeitslohn, führt er ungefähr folgendes aus: Der natürliche Arbeitslohn ist das Produkt der Arbeit, dieser wird dem Arbeiter aber nur in primitiven Gesellschaftszuständen gewährt. Mit der Akkumulation des Privatkapitals wird der Arbeitslohn durch den Kampf zwischen Kapital u. Arbeit festgesetzt. Das Ergebnis dieses Kampfes hängt in der Regel von dem gegenseitigen Verhältnis des Angebots u. der Nachfrage nach Arbeit ab. Unter „Nachfrage nach Arbeit“ versteht nun Smith den jeweilig gegebenen Kapitalfonds. Bei Smith finden wir auch schon die unzertrennliche Ergänzung der Lohnfondshypothese – die Bevölkerungstheorie: Angebot der Arbeit, sagt er, hängt seinerseits von der jeweiligen Häufigkeit in der Kinderzeugung unter der arbeitenden Bevölkerung ab, diese aber richtet sich jedes Mal genau nach der Kapi

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