Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 629

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Der „Verfassungsstaat“ der Mordbuben

[1]

Bulygin geht – Trepow bleibt

Nach dem Bankrott der zaristischen Geheimkonstitution ist es natürlich, daß der Vater der famosen „Reichsduma“ seinem Kinde ins Reich der Schatten folgt. Bulygins Abschied bedeutet den Abschied des Verfassungsschwindels.[2] Als Herr der Situation bleibt tatsächlich Trepow[3], das heißt die offene Säbelherrschaft, die Judenmetzeleien und die Massenmorde auf dem Platze.

Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Durch einen kaiserlichen Ukas ist das Gesuch des Ministers des Innern Bulygin um Enthebung von seinem Posten angenommen worden.

An Stelle Bulygins tritt vorläufig sein bisheriger Gehilfe Durnowo[4].

Petersburg, 5. November. Die Stadtduma beschäftigte sich gestern den ganzen Tag damit, Mittel ausfindig zu machen, um bei der heutigen Leichenfeier Blutvergießen zu verhindern. Die Duma wandte sich an Witte[5], dieser erklärte, die Kundgebung zu gestatten und über die Truppen zu verfügen, stehe nicht in seiner Macht. Hierauf beschloß die Duma, einen Aufruf an die Bevölkerung zu erlassen, und entsandte eine Abordnung zu Trepow.

Ein vereiteltes Blutbad

Am 5. November sollte in Petersburg aus Anlaß des Begräbnisses der Opfer der Zarenschergen eine Massendemonstration der Arbeiter stattfinden. Trepow bereitete sich offenbar vor, die Gelegenheit zu einem Blutbad, zu einer Generalschlacht mit der revolutionären Arbeiterschaft der Hauptstadt zu benutzen. Die Arbeiterführer beschlossen jedoch, in richtiger Erkenntnis der Absichten des Zarismus, die entscheidende Schlacht in einem für die Arbeiterschaft günstigen Augenblick zu liefern, wenn die Bewaffnung der proletarischen Volksmilizen eine vollständigere sein wird.

Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Der Rat der Arbeitervertretungen hat, um nicht das Leben der Bevölkerung Gefahren auszu-

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[1] Diese Meldungen erschienen in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), sind sie unter Nr. 366 ausgewiesen.

[2] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.

[3] Dmitri Trepow war seit 1896 Polizeichef von Moskau und seit April 1905 Polizeiminister.

[4] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.

[5] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.