Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 903

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ergänzenden oder gegensätzlichen, sondern in gar keinem Verhältnis zu der proletarischen Klassenbewegung. Sie ist an sich weder gut noch schlecht.“

Dieses Zitat gibt dem „Grundstein“ Gelegenheit, eine ganze Spalte lang die edelste Entrüstung über die „politische Überbrettlkunst“ und was dergleichen Geschmacklosigkeiten mehr sind, auszugießen.

Es tut uns sehr leid, dem „Grundstein“ und den anderen Gewerkschaftsblättern, die, wie die „Bergarbeiter-Zeitung“, mit Behagen den Artikel verwerten, ihre emsige Arbeit der Legendenbildung zerstören zu müssen. Der „Grundstein“ hat sich nämlich aus den Fingern gesogen, daß das obige Zitat aus der „Leipziger Volkszeitung“ von der Genossin Luxemburg stammt, genau so wie er sich aus den Fingern gesogen hat, daß Genossin Luxemburg je in irgendeiner Versammlung oder auch in irgendeinem Artikel den gewerkschaftlichen Kampf schlechthin als „Sisyphusarbeit“ bezeichnet hätte. Die Legende von der „Sisyphusarbeit“ ist erst vor wenigen Wochen vom Genossen Hue bereits fruktifiziert, gleich darauf aber im „Vorwärts“ als gewissenloser Demagogenkniff festgenagelt worden. Es wurde dabei an der Hand von Zitaten erwiesen, daß Genossin Luxemburg in ihrer Broschüre „Sozialreform oder Revolution“ nicht den gewerkschaftlichen Kampf um die materielle Hebung der Arbeiterklasse, sondern das den Gewerkschaften von bürgerlichen Sozialreformern oder von einigen sozialdemokratischen Revisionisten gestellte Ansinnen, durch Lohnkämpfe den Kapitalismus abzuschaffen, als Sisyphusarbeit bezeichnet und wissenschaftlich nachgewiesen hat.

Das ganze Lamento des „Grundsteins“, sowie seiner Kollegen, beruht also auf dreist erfundenen Tatsachen.

Doch was verschlägt’s? Man kann die holde Legende von der Feindschaft der Sozialdemokratie oder eines Teils derselben gegen die Gewerkschaften noch so oft zerstören, – „es bleibt dabei“.

Beweist doch schon die ganze menschliche Kulturgeschichte, daß der Kampf gegen Legenden, die irgend jemand nützlich sind, stets – Sisyphusarbeit ist.[1]

Vorwärts (Berlin),

Nr. 293 vom 15. Dezember 1905.

Was wird aus Rußland?

Darüber zerbricht sich im „Volksblatt für Anhalt“ Genosse Peus den Kopf. Seiner völligen Ratlosigkeit gibt er folgenden erschütternden Ausdruck: Wer kann’s sagen? Die Nachrichten widersprechen sich. Bald heißt’s, Witte ist noch immer Herr der Situation[2] und bald wieder siegt Durnowo.[3] Bald glaubt man, die Revolutionäre holen

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[1] Siehe dazu auch Aus der Partei. Beiträge und Kommentare zu Meldungen in der Rubrik „Aus der Partei“. In: GW, Bd. 6, S. 912 ff.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[3] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister. Er hatte den Allrussischen Verband der Angestellten des Post- und Fernmeldewesens verboten. Dagegen hatte der Kongreß des Verbandes am 15. November 1905 zum Proteststreik aufgerufen.