Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 904

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zum letzten vernichtenden Schlage aus, bald wieder scheint auf ihrer Seite alles in Wirrnis. In hohem Maße vermißt man führende Männer, wie sie die französische Revolution von 1789 in so glänzender Art und großer Zahl hervorgebracht hat. Wo ist ein revolutionärer Führer, dessen Name in aller Munde wäre? –

Was sind die Meutereien? Sind’s planmäßige revolutionäre Akte oder sind’s nur wilde Ausbrüche zielloser Menschen? Das letztere dünkt uns wahrscheinlicher, weil wir so gar kein planmäßiges Fortschreiten gewahr werden. Heute meutern sie, morgen unterwerfen sie sich wieder. –

Das ganze Schauspiel der russischen Revolution, so gigantisch und großartig es in seiner Kraftentfaltung ist, bietet, was Klarheit und Festigkeit in den Taten anbetrifft, auf keiner Seite einen befriedigenden Anblick. Was daraus werden mag, kann noch niemand sagen.

Man möchte bei der obigen Jeremiade unwillkürlich ausrufen: Da brat’ mir einer den Storch! Wenn ein sozialdemokratisches Blatt nach all den grandiosen Beweisen einer bewundernswerten Disziplin, Kaltblütigkeit, Energie und Zielsicherheit, wie sie in dem Kampfe der Arbeiterklasse Rußlands jeden Tag zum Ausdruck kommen – nehmen wir doch nur die letzten Massenstreiks, den Eisenbahner-, jetzt den Post- und Telegraphenbeamtenstreik –, wenn jemand nach alledem „Klarheit und Festigkeit in den Taten“ der russischen Revolution vermißt, dann zeigt er eben, daß er sich genau wie die ganze bürgerliche Philisterpresse von offiziösen Telegraphennachrichten verwirren läßt und ohne jede Richtschnur einer eigenen Auffassung mit jeder Depesche himmelhoch jauchzt oder zu Tode betrübt zusammenklappt. Freilich wickelt sich ein weltgeschichtliches Schauspiel wie die russische Revolution nicht so glatt am Schnürchen ab wie die Besteuerung eines Konsumvereins. Aber dazu sind wir ja Sozialdemokraten, um uns in dem Wust der äußeren Begebenheiten zurechtzufinden und das Wesentliche und Grundlegende aus dem Äußeren und Zufälligen herauszuschälen.

Das Interessanteste in der Jeremiade des Anhalter „Volksblatts“ ist jedoch sein Suchen nach „großen Männern“, nach „Helden“, wie sie in der französischen Revolution hervorragten. Hier verrät sich eine durch und durch bürgerliche Geschichtsauffassung. Diese Fragen erinnern uns übrigens lebhaft an jene Antwort, die Heinrich Heine seinerzeit den Kritikern der Shakespearschen Dramen gab, als sie sich beklagten, daß sie in den Dramen des großen Briten alle Anforderungen des „klassischen Dramas“, also die Einheit der Zeit, des Ortes und einen eigentlichen „Helden“ vermissen.[1] Diese Bedingungen sind alle da, antwortete Heine lächelnd, Ihr seid bloß zu kleine Leutchen, um sie zu bemerken: der einheitliche Ort der Shakespearschen Dramen, das ist – die Erdkugel, die Zeit – die Weltgeschichte, und der „Held“ – das ist die Menschheit! Wer heute in der russischen Revolution nach „Helden“ sucht, bemerkt nicht den einen großen Helden: die moderne Arbeiterklasse, das Proletariat als

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[1] Siehe Heinrich Heine: Heinrich Heines sämtliche Werke. Siebenter Band, Berlin o. J., S. 7 f.