Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 137

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Aus Frankreich

[1]

In den Sachen Picquarts gegen du Paty de Clam hat das Kriegsministerium bekanntlich die Kompetenz des Zivilgerichts bestritten. Die Unbefangenheit des Untersuchungsrichters Bertulus, der schon in seiner Begründung der Kompetenz die Hauptbeweise der Schuld du Paty de Clams zusammengestellt hatte, erschien natürlich sehr gefährlich für die Sippschaft des Generalstabes, und es kam darauf an, den Kompagnon Esterhazys und Verwandten Cavaignacs vor der Ziviljustiz zu retten und dem Militärgerichte zu übergeben, was so viel heißt, wie den Beelzebub vor seiner Schwiegermutter zu verklagen. Die Anklagekammer entschied den Kompetenzstreit – zu Gunsten des Militärgerichtes. Eine neue gerichtliche Komödie steht also in Sicht.

Die Zeichen, daß die öffentliche Meinung in Frankreich allmählich zur Besinnung kommt, mehren sich unterdessen. In dem Dorfe Salles-Montginard, am Grabe des verstorbenen ehemaligen Generalschulinspektors Pécaut, hielt sein Freund Buisson, Professor an der Sorbonne, eine Rede, die eine scharfe Kritik der Regierung enthielt. Ebenso wie der Verstorbene sieht der Professor das größte Unglück Frankreichs in dem System der Vertuschung, der Lüge und der Heuchelei, das in der Dreyfus-Affäre[2] jahrelang getrieben wird. Der radikale Unterrichtsminister Bourgeois wird wahrscheinlich nicht zögern, den rebellischen Buisson, gleich dem Stapfer, vom Amte zu suspendieren.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 183 vom 10. August 1898.

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[1] Die Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Siehe Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.