Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 152

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Entbehrungslöhne der Kapitalisten und kapitalistische „Wohltaten“ in Frankreich

[1]

Anläßlich der eingeleiteten Bewegung der französischen Eisenbahner[2] protzten die Eisenbahngesellschaften gar wichtig mit den „Wohltaten“ herum, welche sie „ihrem Personal“ aus reiner Herzensgüte zuzuwenden geruhten. Die kapitalistische Presse schlug natürlich ob so viel Hochherzigkeit die wunderlichsten Purzelbäume anbetender Bewunderung und donnerte mit dem Brustton sittlichster Entrüstung gegen die nimmersatte „Begehrlichkeit“ der Arbeiter. Die folgenden Zahlen zeigen nun mit herzerfrischender Deutlichkeit, wie „hochherzig“ die Eisenbahngesellschaften mit Löffeln geben und mit Scheffeln nehmen. An Beiträgen für die Pensions- und Sparkassen, für ärztliche Behandlung und Medikamente, an Löhnen und Gehältern in Krankheitsfällen, Gratifikationen am Jahresschluß und Stipendien verausgabten die Gesellschaften 1897 laut ihrem Rechnungsbericht insgesamt noch nicht einmal 50 Millionen Francs für ihr Personal.

Die Linie Paris–Lyon wendete mit 13030000 Francs am meisten für „wohltätige“ Zwecke zu Gunsten ihrer Arbeiter und Angestellten auf; am billigsten kam die „Hochherzigkeit“ der Linie nach Südfrankreich zu stehen: 6150000 Francs. Die sechs in Betracht kommenden Eisenbahngesellschaften, welche sich, wie angegeben, 1897 ihre Hochherzigkeit noch nicht einmal 50 Millionen kosten ließen, säckelten in dem genannten Jahre einen Reinertrag von 629 Millionen Francs ein. Während in den letzten Jahren, wie wir mitteilten, die Löhne und Gehälter des Personals wiederholt gekürzt worden sind, stieg der Reingewinn der Aktionäre von Jahr zu Jahr. Er betrug nämlich 1893: 514 Millionen fr, 1894: 542 Millionen fr, 1895: 560 Millionen fr, 1896: 600 Millionen fr, 1897: 629 Millionen Francs.

Wer stellt sich nicht mitfühlenden Herzens vor, daß bei solchen Entbehrungslöhnen und solchem Wohltun die ärmsten Dividendenschlucker bei einem Glas Pumpenheimer und einer Portion Hottehü notleiden, während die „begehrlichen“ Eisenbahner bei einem Tagesverdienst von zwei fr 50 ct bis fünf fr in Champagner und Austern schlampampen?

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 213 vom 14. September 1898.

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[1] Diese Notiz ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Siehe auch Rosa Luxemburg: Zur Bewegung der französischen Eisenbahner. In: GW, Bd. 6, S. 140 ff. und S. 143 ff.