Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 609

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Die zaristische „Verfassung“, gemildert durch den Massenmord

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Der dritte Tag seit dem Erscheinen der „Verfassungsmanifestes“[2] ist ins Land gegangen. Die letzten Spuren der von dem offiziellen Telegraphen krampfhaft aufgebauschten „Begeisterung“ sind in Strömen des von den wilden Bestien des Zarismus vergossenen Bürgerblutes ertränkt worden. Das Mißtrauen hat sich wieder einmal als echte demokratische Tugend, die Taktik der Sozialdemokratie: Gewehr bei Fuß! als die einzig richtige erwiesen. Sogar das liberale „Volk“, das gestern „noch so schön besoffen“, ist heute „ach, so katzenjämmerlich“ gestimmt.

Und kein Wunder! Aus allen Städten, aus allen Gegenden, aus allen Ecken des Reiches laufen Nachrichten über Mord und Plünderung, Judenkrawalle und bestialische Ausschreitungen der Polizei, der Kosaken, der Soldateska ein. Der Zarismus greift wieder zu seinem bewährten und beliebten Kampfmittel gegen die revolutionäre Bewegung des Proletariats: Er wiegelt den Abschaum der Gesellschaft, den „fünften Stand“, das städtische Lumpenproletariat auf, um die revolutionäre Avantgarde der Arbeiterschaft in einem Blutmeer zu ersticken. Generalmord gegen Generalstreik! – das ist die nunmehr unzweifelhafte Taktik des Zarismus in den letzten drei Tagen.

Und die Metzeleien, die Judenkrawalle, die „patriotischen“ Kundgebungen des Polizeigesindels zur Provokation der Bevölkerung sind so unmittelbar nach der Veröffentlichung des Manifestes, so plötzlich, mit solcher Vehemenz, so allgemein, so gleichzeitig, so gleichartig ausgebrochen, daß es einfach unmöglich ist, sie als lauter „Zufallserscheinungen“, sie anders denn als die Ausführung eines wohlüberlegten Planes aufzufassen. Die aus allen Gegenden des Reiches einlaufenden Blutnachrichten führen mit unabweisbarer, zwingender Logik zu dem Schlusse:

Die Massenmorde, Judenkrawalle und das Verfassungsmanifest sind Details eines und desselben vom Zarismus in seiner letzten Angst ausgeheckten teuflischen Planes. Die liberalen Elemente und die unklaren breiten Kreise der Bevölkerung durch das Blendwerk des Verfassungsmanifests um den Preis leerer Versprechungen vorläufig für sich zu gewinnen und zu beruhigen, die intransigente revolutionäre Arbeiterschaft aber gleichzeitig mit

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. Er befindet sich als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere 606

Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.