Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 915

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1906

Generalstreik und die deutsche Sozialdemokratie. Vorwort zur russischen Ausgabe der Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“

[1]

Der Einfluß der russischen Ereignisse auf die deutsche Sozialdemokratie zeigte sich auf anschaulichste Art am Schicksal des Generalstreikproblems.[2] Noch bis vor kurzem war das deutsche bewußte Proletariat gegenüber diesem Problem äußerst negativ, man kann sogar sagen, spöttisch eingestellt. Auers Diktum „Generalstreik – Generalunsinn“ wurde in Deutschland zum geflügelten Wort. Die ablehnende und spöttische Einstellung gegenüber der Idee des Generalstreiks galt geradezu als spezifisch marxistisches Merkmal der Taktik der deutschen Arbeiterbewegung im Unterschied zur „romanischen“ Taktik, als Merkmal deutscher Nüchternheit und Gründlichkeit im Gegensatz zu französischer und italienischer Leichtigkeit und Unbekümmertheit. In der Tat, der Gegensatz in den auf die Generalstreikidee bezogenen Auffassungen im deutschen Proletariat einerseits und im französischen sowie italienischen und spanischen andererseits wurde lange Zeit auf die grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen der sozialdemokratischen und der anarchistischen Weltanschauung zurückgeführt. Die schärfste Ablehnung der Idee des Generalstreiks war bisher identisch mit der Verteidigung der Notwendigkeit einer breiten und gründlichen Organisation der Arbeitermassen als unerläßliche Bedingung für einen erfolgreichen Klassenkampf wie auch der Notwendigkeit des täglichen Kampfes der Arbeiterklasse um politische Rechte, der Notwendigkeit, parlamentarische Formen des politischen Lebens im Interesse des Proletariats zu nutzen. Dies war zweifellos der Sinn der Resolutionen zum Generalstreik, die von Vertretern der deutschen Sozialdemokratie auf den internationalen Sozialistenkongressen verteidigt wurden, vom Züricher des Jahres 1893 bis zum Amsterdamer 1904.

Doch gerade zu der Zeit, da in Amsterdam der letzte internationale Kongreß tagte, ertönten in Rußland die ersten Donnerschläge des herannahenden Gewitters, das dazu berufen ist, einen Umsturz in der Taktik des kämpfenden internationalen Proletariats zu vollziehen, – und dessen erste und überraschendste Folge war, daß der Generalstreik im völlig neuen Licht erschien.

Zur hohen Ehre des deutschen bewußten Proletariats muß anerkannt werden, daß, obwohl bislang der äußerste Gegner von Generalstreiks, es jetzt als erstes auf

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 91 ff.

[2] Im russischen Text der Schrift heißt es fast durchweg Generalstreik. In der deutschen Sozialdemokratie überwog der Begriff Massenstreik.