Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 916

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die anschaulichen Lehren der russischen Befreiungsbewegung reagierte und sich mit Feuer begeistert an die Seite der Idee stellte, die es mehr als fünfundzwanzig Jahre verspottet hatte. Die deutschen Arbeitermassen zeigten eine solche Flexibilität des Denkens, so viel revolutionären Spürsinn und politische Reife, daß sie sich einmal mehr auf eine höhere Stufe emporhoben als viele ihrer Führer.

Und in der Tat. Während sozialdemokratische Organisationen in allen Teilen Deutschlands schon seit dem Frühjahr 1905 die so oder anders mit der Bewegung in Rußland verbundenen Redner mit Forderungen überschütteten, über den Massenstreik und die Erfahrungen des Proletariats in Rußland zu berichten, und während die öffentlichen, im revolutionären Geist gehaltenen Reden zu diesem Thema bei den Arbeitermassen eine gewaltige Begeisterung auslösten, erklärten die Führer der Gewerkschaften auf dem Gewerkschaftskongreß im Mai[1] 1905 in Köln die Idee des Massenstreiks in Deutschland nicht nur für nicht realisierbar, sondern geradezu für gefährlich und nahmen auf Vorschlag des Vorsitzenden des Zentralverbandes der Maurer Bömelburg eine Resolution an, die sogar die Propaganda dieses Kampfmittels verbot![2]

Zugleich wurde der Massenstreik auch in den Reihen der Sozialdemokratie zum Zankapfel und rief eine anhaltende und überaus scharfe Diskussion zwischen den beiden Parteiflügeln hervor: dem revolutionären und dem opportunistischen. Die Broschüre von Henriette Roland Holst[3] wurde, ungeachtet ihrer überaus maßvollen Form, unter anderen, zum Gegenstand scharfer Angriffe durch das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie „Vorwärts“, das damals noch in den Händen der Befürworter der opportunistischen Taktik war. Die Diskussion über den Massenstreik, die zwischen Karl Kautsky und der früheren Redaktion des „Vorwärts“ entbrannt war, nahm – auf der Grundlage der seit langem schwelenden Unzufriedenheit mit der Ausrichtung des Zentralorgans – so scharfe Formen an, daß sie zum letzten Anstoß für die Debatten auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1905 in Jena über die Taktik der „Vorwärts“-Redaktion wurde.[4]

Der Jenaer Parteitag stand bekanntlich unter überaus starkem Einfluß der Ereignisse in Rußland. Der linke, revolutionäre Flügel errang dort einen entschiedenen Sieg, was sowohl in der begeisterten Annahme der Resolution zugunsten der Massenstreikidee[5] als auch in dem sofort nach dem Parteitag erfolgten „Umsturz“ in der Redaktion des Zentralorgans, aus der sechs Vertreter der „gemäßigten“ Taktik austraten, zum Ausdruck kam. Mit der neuen Zusammensetzung der Redaktion begann

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[1] Im Original: April.

[2] Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand in Köln vom 22. bis 27. Mai 1905 statt. In seiner Resolution heißt es: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Kongreßprotokoll, Berlin o. J., S. 30.

[3] Gemeint ist ihre Schrift „Generalstreik und Sozialdemokratie“. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky, Dresden 1905.

[4] Der Vorwärts, der nach dem Tode Wilhelm Liebknechts unter der Chefredaktion von Kurt Eisner immer mehr in das Fahrwasser der Opportunisten geraten war, hatte sich 1905 auf die Seite der Gegner des politischen Massenstreiks gestellt und durch diese Haltung große Empörung bei der Mehrheit der Sozialdemokraten ausgelöst. Dieses Problem hatte auch auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Jena 1905 eine Rolle gespielt. Vom Parteitag war eine Fünfzehnerkommission eingesetzt worden, um den sachlichen Inhalt einiger Anträge zu prüfen, in denen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen, besonders dem Vorwärts und der LVZ, über taktische Fragen, vorwiegend den politischen Massenstreik, als „Literatengezänk“ bezeichnet wurden und die unter diesem Deckmantel die Einstellung der Auseinandersetzung forderten. Die Kommission verwarf diesen Standpunkt. Der Vorwärts vom 22. Oktober 1905 veröffentlichte die Kündigung der sechs bisherigen Vorwärts-Redakteure. Am 25. Oktober 1905 druckte der Vorwärts die Mitteilung des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei ab, daß in einer Sitzung leitender Funktionäre der Partei am 23. Oktober 1905 in Berlin die Kündigung der Vorwärts Redakteure akzeptiert und Maßnahmen zur Ergänzung der Redaktion beschlossen worden waren. An dieser Zusammenkunft hatten teilgenommen: der Parteivorstand, die Vertrauensleute von Berlin und Umgegend, die Vorsitzenden und Kassierer der acht sozialdemokratischen Wahlvereine, die Lokalkommission, die Agitationskommission für die Provinz Brandenburg sowie Abgeordnete und Kandidaten der Wahlvereine Berlins und Umgegend für den Reichstag. Die neue Redaktion nahm mit Rosa Luxemburgs als Verantwortliche ab 1. November 1905 ihre Tätigkeit auf.

[5] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Jena vom 17. bis 23. September 1905 beschlossene Resolution bezeichnete die umfassende Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.