der „Vorwärts“, die Ereignisse in Rußland wie auch die Frage nach dem Massenstreik in einem ganz anderen Geist zu beleuchten als früher.[1]
Aber gerade das hat in hohem Maße die opportunistischen Kreise in der Partei beunruhigt und rief eine systematische Hetzjagd gegen den „Vorwärts“ hervor. Der bezeichnendste Ausdruck dieser Hetzjagd war die öffentliche Presseerklärung von drei parlamentarischen Vertretern der Partei aus der Gegend um Hamburg und Kiel, Frohme, Elm und Lesche.[2] Sie warnten die Partei vor der gefährlichen „revolutionären Romantik“, die die neue „Vorwärts“-Redaktion in Artikeln und Volksversammlungsberichten angeblich predige und die Deutschland mit allen Katastrophen der Revolution bedrohe.
Im Zusammenhang mit diesen Angriffen kam die Frage nach der richtigen oder falschen Auslegung der Jenaer Resolution auf. Die opportunistischen Kreise in der Sozialdemokratie waren der Meinung, der Jenaer Parteitag habe die Möglichkeit, einen Massenstreik in Deutschland anzuwenden, nur für den Fall befürwortet, wenn die Regierung der Arbeiterklasse das allgemeine und gleiche Reichstagswahlrecht wegnehmen würde, oder wenn die Sozialdemokratie sich entschlösse, um jeden Preis den Zugang zum preußischen, sächsischen bzw. einem anderen der reaktionären Landtage zu erringen, die bis heute vermittels eines mehrstufigen ungleichen Wahlrechts von der Teilnahme der Arbeiterklasse abgeschirmt werden.
Inzwischen kamen die Oktobertage in Rußland heran.[3] Deren gewaltiger Einfluß zeigte sich sogleich in der stürmischen Bewegung des österreichischen Proletariats für das allgemeine und gleiche Wahlrecht.[4] Demonstrationen und Massenstreiks in Wien, Prag, Graz beeinflußten ihrerseits die deutschen Arbeiter, vor allem im mit Österreich benachbarten Sachsen,[5] wo gerade das Jahrzehnt nach dem reaktionären Umsturz zu Ende ging, der der Arbeiterklasse den Zugang zum hiesigen Landtag versperrt hatte. Zur selben Zeit schickte sich die Bourgeoisie in der „freien Hanserepublik Hamburg“ an, die Arbeiter des Teilnahmerechts an den Wahlen zum hiesigen gesetzgebenden Organ zu berauben.[6] Und in Preußen schließlich rief die Gärung in den Arbeitermassen die Frage hervor, ob es nicht auch für das deutsche Proletariat an der Zeit sei, die neue kraftvolle Waffe im Kampf um seine politischen Rechte auszuprobieren. Der bevorstehende Jahrestag der Petersburger Ereignisse vom (9.) 22. Januar[7] schien der günstigste Anlaß für den Beginn der Bewegung zu sein, wenn sie überhaupt stattfinden
[1] Zur Redaktion gehörten neben Rosa Luxemburg Hans Block, Georg Davidsohn, Wilhelm Düwell, Arthur Stadthagen, Karl Wermuth, Heinrich Cunow, Heinrich Ströbel und Fritz Kunert. „Liebe Róza“, schrieb Karl Kautsky auf eine Visitenkarte am 28. Oktober 1905, „also morgen nimmt das Interregnum ein Ende, und Du bist als Mitarbeiterin feierlich eingeladen, d. h. offiziell, in der neuen Redaktion mitzutun. Erste Pflicht: Du hast morgen, sonntags, Punkt 10 Uhr Vorm[ittag] zu der Redaktionssitzung zu erscheinen, die alles weitere regelt. Für Dienstag wird ein Artikel von Dir erwartet, Alles andere mach mit dem Menschinstwo selbst ab. Es lebe die Revolution an allen Ecken und Enden! Dein K. K.“ Zitiert nach GB, Bd. 2, S. 225.
[2] Gemeint ist die Zuschrift von Adolph von Elm, Karl Frohme und Friedrich Lesche vom 23. November 1905 an das Hamburger Echo. Sie betrachten sich als diejenigen, die im Sinne der Jenaer Massenstreikresolution und der Mehrheitsauffassung in der Partei handeln, wenn sie die neue Richtung, wie sie die revolutionären Sozialdemokraten einschließlich Rosa Luxemburgs nennen, einer „für die Partei geradezu verderblichen Revolutionsromantik“ bezichtigen. Sie behaupten, die Linken suchten die Jenaer Massenstreikresolution dahin zu deuten, „als sei die Partei auf den politischen Massenstreik bereits derart festgelegt, daß man sich auf ihn allen Ernstes heute oder morgen schon einzurichten habe und jeden, der ihre Revolutionsromantik nicht mitmacht, als ‚Flaumacher‘, als Revisionist, als ‚Verhöhner des revolutionären Geistes‘ in der Partei, als ‚Auch-Sozialist‘ verdächtigt und ihn dadurch in der Wirksamkeit seiner Tätigkeit in der Arbeiterbewegung lahmzulegen sucht“. Sie unterstellen der neuen Richtung, insbesondere Rosa Luxemburg, die gewerkschaftliche Arbeit als „Sisyphusarbeit“ abzutun und die parlamentarische Arbeit zu entwerten. Siehe Hamburger Echo Nr. 275 vom 24. November 1905.
[3] Ende Oktober 1905 kam es zu politischen Massenstreiks in allen Industriezentren in Rußlands unter Losungen wie Sturz der Selbstherrschaft, Boykott der Bulyginschen Duma, Einberufung der Konstituierenden Versammlung und Errichtung einer demokratischen Republik. Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.
[4] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.
[5] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet. – In Sachsen gab es im November/Dezember 1905 unter Führung der Sozialdemokratie Wahlrechtskämpfe, in denen vor allem in Chemnitz, Dresden und Leipzig ein demokratisches Wahlrecht gefordert wurde. In Dresden kam es zwischen Polizei und Demonstranten zu blutigen Zusammenstößen.
[6] Der Senat der Hamburger Bürgerschaft hatte am 4. Mai 1905 eine Vorlage zur Änderung des Wahlgesetzes eingebracht, wonach die Wähler der Stadt Hamburg nach der Höhe des Einkommens in drei Gruppen eingeteilt werden sollten. Das bedeutete die Einführung des Dreiklassenwahlrechts. In der Begründung der Vorlage war ausdrücklich betont worden, daß damit der Zunahme sozialdemokratischer Stimmen entgegengewirkt werden sollte. Vor der entscheidenden Abstimmung Ende Januar 1906 legten am 17. Januar 1906 80000 Hamburger zu einem halbtägigen Massenstreik, entsprechend einem sozialdemokratischen Aufruf, die Arbeit nieder. Die Wahlgesetzänderung wurde am 31. Januar 1906 von der überwiegenden Mehrheit der Bürgerschaft angenommen.
[7] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.