Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 526

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Maimetzeleien in Rußland

[1]

Der erste Mai ist der einzige Feiertag in Rußland, der gleichzeitig auch von den Kulturstaaten begangen wird. Der revolutionäre Charakter des Völkerfestes bringt auch den um dreizehn Tage hinter der Zeit nachgehenden russischen Kalender in Ordnung.

Und dieser Erste Mai, der mit dem Osterfest zusammenfiel, sammelte das ganze revolutionäre Rußland zu einer nie gesehenen gewaltigen Kundgebung gegen den Zarismus, für die Freiheit der Völker.

Aber Väterchen feierte nicht. Am Tage der Auferstehung des christlichen Erlösers ließ er die Truppen aufmarschieren und wiederholte den Petersburger Blutsonntag des 22. Januar.[2]

In Warschau und in anderen Städten Russisch-Polens ist der Erste Mai mit Blut getränkt worden. Wieder wurden friedliche Demonstranten, wehrlose Frauen und Kinder niedergemetzelt. Selbst die offiziellen Telegramme geben unverblümt zu, daß ohne jede Provokation auf die in heiliger Maiwallfahrt dahin ziehenden Pilger der Freiheit geschossen wurde.

Dieser Blutmai schreibt wiederum dem Zarismus das Todesurteil, auf dessen Vollstreckung das Kulturgewissen der gesamten Welt wartet.

Das Mai-Blutbad in Warschau

Wir erhalten folgendes Privattelegramm: Warschau, 1. Mai, 11 Uhr abends. Heute hat eine von der Sozialdemokratie veranstaltete Riesendemonstration stattgefunden. Ein Zug von 30000 Demonstranten bewegte sich über die Straßen: Wronia, Witkowski-Platz, Zelazna, Jerozolimska. Im Zuge wurden acht Fahnen getragen. Mehrere Reden wurden auf offener Straße gehalten. Die Demonstration dauerte zwei Stunden. In der Jerozolimskastraße kam es um drei Uhr zu einem Zusammenstoß mit dem Militär. 130 Personen wurden getötet, Hunderte verwundet, viele verhaftet.[3]

Vorwärts (Berlin),

Nr. 101a vom 2. Mai 1905.

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[1] Dieser Bericht ist nicht gezeichnet. Bemerkungen im Brief Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches vom 2. Mai 1905 lassen auf ihre Verfasserschaft schließen, siehe GB, Bd. 2, S. 82.

[2] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.

[3] Siehe auch S. 539 ff. und 543 ff.