Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 884

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wir uns doch der Zeiten, wo unsere Presse finanziell viel schlimmer stand, wo häufig ein einziger Redakteur das ganze Blatt machen mußte und wo es noch keine Artikelfabriken gab! Mit wie viel Fleiß und Begeisterung wurde in jener Zeit dennoch gearbeitet! Reichen die Kräfte, reicht die Zeit bei den heutigen Anforderungen der Presse nicht aus, dann müßten unsere organisierten Genossen in der Provinz ihren Redakteuren eher durch Anstellung ausreichender Hilfskräfte oder dergleichen Mittel zu helfen suchen, anstatt sie zur Verwüstung der Presse überhaupt durch Verwendung mechanischer Schablonen zu verleiten.

Wohlgemerkt wenden wir uns gar nicht in erster Linie gegen die meistens opportunistische grundsatzlose Richtung dieser maschinellen Produkte. Eine „radikale“ Meinungsfabrik, die so geistlos verfahren, so verheerend auf die Hirne der Arbeiter wirken würde, müßten wir genauso energisch bekämpfen. Was hier den heftigsten Protest herausfordert, ist die geistige Verödung, die unserer Provinzpresse durch diesen mechanischen Abdruck fertig „ins Haus gelieferter“ Fabrikprodukte droht, ist das frevle Spiel mit dem heiligsten Gut der modernen Arbeiterbewegung: dem intellektuellen Wissensdurst unserer Proletarier. Der bescheidenste und in dieser oder jener Beziehung unzulänglichste Artikel, der aus eigenem Fleiß und eigener Gedankenarbeit eines Provinzredakteurs entsteht, ist zehnmal wertvoller, als diese durch zehn, zwölf und mehr Blätter rollenden stereotypen „Geistesprodukte“. Wir werden darum nicht müde sein, immer und immer wieder unseren Genossen in der Provinz zuzurufen: Fort mit der fabrikmäßigen Herstellung von Parteimeinungen und mit fabrikmäßiger Verheerung proletarischer Intellekte!

Vorwärts (Berlin),

Nr. 285 vom 6. Dezember 1905.

Anarchismus und Sozialismus

Über dieses Thema hielt in einer Versammlung des Sozialdemokratischen Vereins in Erfurt Genosse L. Kesselring einen interessanten und lehrreichen Vortrag. An der Hand von Zitaten aus Proudhon, Heß, Stirner und Bakunin wies der Referent nach, daß der Anarchismus mit unhaltbaren Theorien ein unmögliches gesellschaftliches Ideal vertrete, und schloß nach dem Bericht der Erfurter „Tribüne“ etwa mit den Worten: „Fassen wir zusammen, so finden wir folgendes: Anarchismus und Sozialismus trennt vor allem das Endziel, denn während jener ein regelloses „Ausleben“ des „Individuums“ ohne Rücksicht auf den andern will, wollen wir ein nach bestimmten Gesetzen geregeltes genossenschaftliches Zusammenleben und -wirken, innerhalb dessen Grenzen dem Individuum trotzdem noch, oder gerade deswegen, eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Betätigung gewährleistet wird, bei Erhalten voller gesellschaftlicher und staatsbürgerlicher Gleichberechtigung und Freiheit! Dar-

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