Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 885

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um kann die Sozialdemokratie über den Anarchismus, der mit seinem Spintisieren nur bei Wirrköpfen einen Anklang findet, ruhig zur Tagesordnung übergehen.“

Nebenbei gesprochen, ist es nicht ganz angängig, Moses Heß zusammen mit Proudhon und Stirner so ohne weiteres zu den Theoretikern des Anarchismus zu werfen. Heß war ja freilich ein typischer Vertreter des konfusen Gefühlssozialismus, der, wie jede Konfusion manchen verwandten Zug mit dem Anarchismus hat und von dem er sich zeitlebens nicht zu befreien vermochte[1]. Trotzdem aber gab sich Heß doch die redlichste Mühe, mit Marx und Engels an einem Strange zu ziehen und hat es auch sowohl in dem 1845 gegründeten „Gesellschaftsspiegel“, wie in der 1847 von Bornstedt gegründeten „Deutschen Brüsseler Zeitung“ getan, auch noch in den „Rheinischen Jahrbüchern“ nach Kräften versucht. Die „Deutsche Brüsseler Zeitung“ namentlich war aber in der Hauptsache gerade ein Kampforgan der Marx-Engelsschen Gruppe gegen die anarchistische Verseuchung des Sozialismus durch Proudhon, Grün u. a.[2] Speziell gegen Proudhon hat ja Heß eine scharfe und in vielem zutreffende Kritik unter dem Titel: „Die letzten Philosophen“ veröffentlicht.[3] Und schließlich hat Heß noch in den 70er Jahren an dem Leipziger „Volksstaat“ mitgearbeitet, also doch treu zur Sozialdemokratie gehalten.

Was die Kritik des Anarchismus selbst betrifft, so wären wir der Ansicht, daß der Unterschied im Endziel, in dem angestrebten gesellschaftlichen Ideal, das bei weitem untergeordnete ist, was die Sozialdemokratie von dem Anarchismus trennt. Nicht weil die Anarchisten etwas anderes wollen als wir, nicht weil sie ihr Ideal so weit gesteckt haben, daß wir ihnen nicht folgen können, sondern umgekehrt, weil sie in ihren Bestrebungen, ohne es zu wissen freilich, überhaupt nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft herauskommen, deshalb kann die Arbeiterbewegung mit den Anarchisten nichts gemein haben. Der springende Punkt bei unserer Kritik des Anarchismus, wie auch seiner heutigen armseligen Spielart: des „Anarchosozialismus“, muß unseres Erachtens darin liegen, daß wir den Arbeitern klarmachen, nicht daß der Anarchismus „jede Gesellschaft, jede Organisation“ und, wie Genosse Kesselring betonte, jede „Autorität“ zerstören will, sondern ganz umgekehrt: daß er eben nichts zerstören will, daß er trotz seiner ultrarevolutionären Phrasen tatsächlich bloß eine unbewußte Karikatur der bürgerlichen, kapitalistischen Theorien ist. Schon der theoretische Erzvater des Anarchismus, Proudhon, schrieb 1845 an Marx, daß er gegen eine Revolution

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[1] In der Quelle: versuchte. Nach Druckfehlerberichtigung im Vorwärts Nr. 287 vom 8. Dezember 1905 soll es „vermochte“ heißen.

[2] Siehe Franz Mehring: Einleitung des Herausgebers. Aus den Zeitschriften des deutschen Sozialismus. In: Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Hrsg. von Franz Mehring. II. Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Von Juli 1844 bis November 1847, Stuttgart 1902, S. 327 ff.

[3] Siehe Moses Heß: Die letzten Philosophen, Darmstadt 1845. In: Moses Heß: Philosophische und sozialkritische Schriften 1837–1850. Eine Auswahl. Hrsg. und eingeleitet von Auguste Cornu und Wolfgang Mönke, Berlin 1961, S. 379 ff.